Süddeutsche Zeitung

Gesundheitswesen:Der deutsche Patient

Es sind schwere Zeiten für die Medizin in Deutschland: Ärzte streiken. Gesundheitspolitiker beschimpfen sich. Und viele Kranke sind unzufrieden, auch wenn sie sich selbst gut versorgt fühlen.

Werner Bartens

Die Medizin in Deutschland erlebt schwere Zeiten. Ärzte streiken. Gesundheitspolitiker beschimpfen sich. Und Patienten fällen ein wenig schmeichelhaftes Urteil. Vollauf zufrieden mit ihrer medizinischen Versorgung sind nur wenige. Lediglich 34 Prozent bewerten die Qualität als "sehr gut". Dies berichten Forscher vom Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Deutschen Ärzteblatt Ende dieser Woche (Bd.107, S.427, 2010).

"Deutsche Patienten sind mit dem Gesundheitswesen wie auch der eigenen Versorgung nicht so zufrieden wie Befragte in den meisten anderen Ländern", schreiben die Autoren um Klaus Koch und Peter Sawicki. In Neuseeland haben hingegen 66 Prozent der Befragten am Gesundheitswesen nichts auszusetzen. Auch in Kanada, Australien, England, den Niederlanden und den USA ist die Hälfte der Menschen mit der medizinischen Versorgung sehr zufrieden.

Im Auftrag des Commonwealth Fund finden in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden, Kanada, den USA, Australien und Neuseeland regelmäßig Erhebungen zum Gesundheitswesen statt. Für die aktuelle Studie wurden im Jahr 2008 fast 10.000 chronisch kranke Menschen zu ihren Erfahrungen befragt - sowie Patienten, die kürzlich ins Krankenhaus mussten. In Deutschland vertraten 50 Prozent der Befragten die Ansicht, dass grundlegende Änderungen im Gesundheitswesen notwendig seien, 25 Prozent waren für eine totale Reform. Nur in den USA war die komplette Ablehnung mit 30 Prozent größer.

Die Bewertung in Deutschland ist jedoch widersprüchlich; 24 Prozent der Studienteilnehmer hatten immerhin den Eindruck, das hiesige Gesundheitswesen sei so gut, dass allenfalls kleinere Veränderungen nötig seien. Ging es um die eigene Versorgung fielen die Ergebnisse viel positiver aus als bei Fragen nach dem Gesundheitswesen allgemein: Nur zwölf Prozent beklagten eine schlechte Versorgungsqualität. 53 Prozent gaben der Medizin in Deutschland die Note "gut".

Besonders im Argen liegt die Kommunikation. 36 Prozent der Befragten in Deutschland gaben an, dass der Arzt nicht über Ziele der Therapie gesprochen habe, 69 Prozent erhielten keinen Behandlungsplan und bei nur 21 Prozent der Patienten hatte sich der Arzt nach dem Besuch von sich aus erkundigt, wie sie zurechtkamen. Nur jeder zehnte Arzt in Deutschland erfüllte diese Kriterien; anderswo liegt die Rate viel höher.

"Patienten wünschen sich Ärzte, die empathisch sind und nötige Informationen klar kommunizieren", sagt David Klemperer, Vorsitzender des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin, das sich für eine wissenschaftlich fundierte Patientenaufklärung einsetzt. "Unabhängige Informationen sind Grundlage für weitere Entscheidungen." Etliche Ärzte empfehlen besonders die Methoden, die sie anbieten.

"Manche Patienten stimmen einer Behandlung nur zu, weil sie lückenhaft über Nutzen und Schadensrisiken informiert wurden. Bei vollständiger Information hätten sie Nein gesagt. Dies ist etwa für Bypass-Operationen am Herzen und die Entfernung der Brust in bestimmten Stadien von Brustkrebs belegt", sagt Klemperer.

Erschreckend hoch ist mit 28 Prozent der Anteil der Patienten, die in den vergangenen zwei Jahren auf Medikamente oder Arztbesuche verzichtet haben, um Zuzahlungen zu sparen. Unerfreulich ist auch, dass 24 Prozent der Befragten in Deutschland bei einer Erkrankung sechs Tage auf einen Termin warten mussten. Nur in Kanada war der Anteil höher.

Doppeluntersuchungen und Behandlungen von zweifelhaftem Nutzen

Deutlich schwieriger als in anderen Ländern war es in Deutschland, vom Hausarzt während der Sprechzeit eine Telefonberatung zu erhalten. Auf einen Facharzttermin warten ein Fünftel der Patienten in Deutschland länger als einen Monat. Diese Verzögerungen sind in den anderen Ländern noch häufiger. Etwa ein Fünftel der Patienten musste Doppeluntersuchungen oder Behandlungen von zweifelhaftem Nutzen ertragen.

47 Prozent der Befragten in Deutschland sind bei mindestens vier Ärzten in Behandlung. Obwohl es sich meist um chronisch Kranke handelte, ist dieser Anteil ungewöhnlich hoch. "Wir hören immer wieder, dass sich die Ärzte zu wenig Zeit nehmen - daher rennen die Patienten auch so oft hin", sagt Stefan Etgeton, Gesundheitsexperte vom Verbraucherzentrale Bundesverband. "Und oft verstehen die Patienten einfach nicht, was gemeint ist. 'Erhöhte Leukozyten' muss der Arzt erklären."

Obwohl das deutsche Gesundheitswesen auch Vorteile aufweist, sind viele Kranke unzufrieden. "Möglich, dass die Patienten hier kritischer sind und höhere Erwartungen haben", schreibt Sawickis Team. Jammern auf hohem Niveau? Im europaweiten Vergleich bewerten Patienten in Deutschland ihren Zustand auch dann als schlechter, wenn sie genauso schwer krank sind wie Patienten in anderen Ländern.

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SZ vom 15.06.2010/mcs
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