Gesundheitssystem:"Nur auf Deutsche ausgerichtet"

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Das deutsche Gesundheitssystem ist mit den Anforderungen von Migranten überfordert, beobachtet Psychiaterin Elif Duygu Cindik.

Karoline von Graevenitz

Migranten werden im deutschen Gesundheitssystem diskriminiert, warnt die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Elif Duygu Cindik. Fehldiagnosen und mangelnde Prävention seien Anzeichen dafür. Die in Istanbul geborene und Frankfurt/Main aufgewachsene Wissenschaftlerin sagt, den Integrationserfolg einer Einwanderungsgesellschaft erkenne man auch an der Gesundheit ihrer Migranten.

Elif Duygu Cindik, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, gehört zu den wenigen Wissenschaftlern, die die medizinische Versorgung von Migranten erforschen. (Foto: Foto: oH)

sueddeutsche.de: Frau Dr. Cindik, sind Migranten häufiger krank als Deutsche?

Elif Duygu Cindik: Migranten schneiden laut einer Studie aus Nordrhein-Westfalen bei den typischen Parametern für Volksgesundheit - wie Säuglingssterblichkeit, Zahngesundheit, Durchimpfungsrate, Arbeits- und Autounfälle - deutlich schlechter ab. Vieles deutet darauf hin, dass sie im deutschen Gesundheitssystem nicht präsent sind, weil sie oft nicht wissen, welche Serviceleistungen sie in Anspruch nehmen können und an wen sie sich wenden sollen. Bei Präventionsmaßnahmen sind sie völlig unterrepräsentiert. Bei Hausärzten und in den Notfallambulanzen sind die Patientenzahlen mit Migrationshintergrund dagegen hoch. Sie kommen oft erst in letzter Minute. Um diese Phänomene besser zu erklären, bedarf es gezielter Forschung auf diesem Gebiet.

sueddeutsche.de: Welche Ursachen dieser Phänomene vermuten Sie?

Cindik: Unser Gesundheitssystem ist bisher nur auf Deutsche ausgerichtet und mit der Versorgung von immer mehr Migranten überfordert. Bei der Behandlung gibt es viele Fehldiagnosen, weil man die Patienten kulturell nicht versteht. Beim Dolmetschen werden oft nur Familienangehörige eingesetzt. Es gibt eine Versorgungslücke mit Fachpersonal, das die nötige Sprachkompetenz hat und die kulturellen Eigenheiten kennt. Wenn ein Patient ungenügend aufgeklärt wird, kann die Behandlung nicht richtig funktionieren.

sueddeutsche.de: Wie sehen Ihre Erfahrungen in der Praxis aus?

Cindik: Es gibt gute individuelle Insellösungen in der Versorgung von Migranten. Das interkulturelle Team an unserer Klinik hat gerade eine türkische Patientin nach Monaten erfolgreicher psychotherapeutischer Behandlung in ihrer Muttersprache aus der Klinik entlassen. Der Erfolg der Behandlung wird aber leiden, da es in einem großen Radius um ihren Wohnort herum keinen interkulturell kompetenten Arzt gibt, zu dem sie weiter zur Nachsorge gehen kann.

sueddeutsche.de: Wie geht die Wissenschaft mit dem Problem um?

Cindik: Das Thema findet wenig Beachtung. Es müsste deutschlandweit angelegte Studien zur medizinischen Versorgung von Migranten geben. Diese dürfen natürlich nicht stigmatisierend sein. Es geht vor allem um versorgungswissenschaftliche und sozialpolitische Ansätze, die signifikante Unterschiede bei der Behandlung dieser heterogenen Patientengruppe herausarbeitet. Es gibt viele Fragen und wenig Antworten.

sueddeutsche.de: Wie könnte man diese beantworten?

Cindik: Die Datenlage zur Versorgung von Migranten in Deutschland ist sehr dürftig. Es bedarf großer prospektiver Studien mit medizinischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen. Das Controlling in den Krankenhäusern muss Patienten mit Migrationshintergrund genau erfassen, damit man sehen kann, ob und wie sie sich von deutschen Patienten unterscheiden. In anderen Einwanderungsländern, wie den USA, ist die Dokumentation der ethnischen Zugehörigkeit ganz normal. Die Debatte um Einwanderung und Integration wird in Deutschland viel zu emotional geführt. Davon muss man wegkommen, das sage ich als Wissenschaftlerin. Es geht jetzt darum, ganz korrekt Daten zu erfassen, Probleme zu erkennen und Lösungen zu finden.

sueddeutsche.de: Bekanntlich haben die Biowissenschaften unter ethnischen Vorzeichen eine fatale Tradition in Deutschland. Fürchten Sie nicht, dass Untersuchungen, die nach Herkunft unterscheiden, missbraucht werden?

Cindik : Es ist ein heikles Thema. Es geht nicht darum, Menschen zu stigmatisieren und auszugrenzen. Im Gegenteil. Diskriminierung muss erkannt und verhindert werden. Die Debatte ähnelt ein wenig der Diskussion um die Unterschiede zwischen Mann und Frau und um Gleichberechtigung. Wenn jemand einen ausländischen Pass hat, eine schlechtere Schul- und Berufbildung und schlechte Wohnbedingungen, dann ist er sicher benachteiligt. Natürlich kann es auch rein ethnische Unterschiede geben, wie ein anderes Krankheitsverständnis oder andere Krankheitsrisiken. Die dürfen den Menschen aber nicht zum Nachteil ausgelegt werden. Es geht darum, dass man Unterschiede erkennt und vor allem Chancengleichheit und gleiche Zugangsvoraussetzungen zu medizinischer Versorgung schafft.

sueddeutsche.de: Welche Informationen braucht ein Arzt genau?

Migranten haben oft besondere Probleme, sich im deutschen Gesundheitssystem zurechtzufinden - und adäquat behandelt zu werden. (Foto: Foto: dpa)

Cindik: Bei der Erkrankung und Behandlung von Migranten spielen migrationsspezifische, kulturbedingte und soziale Faktoren eine Rolle. Dazu gehören etwa Einwanderungsmodus, Aufenthaltstatus, Grad der Akkulturation, Sprachkompetenz, Herkunft und Religion. Es macht natürlich einen Unterschied, ob ich einen hochqualifizierten "Green-Card-Inder" behandle oder eine Analphabetin, die aus Afghanistan geflüchtet ist. Auch Statusverlust und Rollenkonflikte sind wichtig.

sueddeutsche.de: Können Sie ein Beispiel nennen?

Cindik: Eine meiner Patientinnen war Mathematikprofessorin in der Türkei. Sie heiratete nach Deutschland, wo ihre Ausbildung nicht anerkannt wurde. Dann musste sie noch mit den traditionellen Wertvorstellungen der Familie ihres Mannes in der Diaspora zurechtkommen. Dass diese Frau erst einmal Anpassungsschwierigkeiten hatte und sehr depressiv wurde, ist verständlich. Gerade dieses Beispiel zeigt, wie Potential gut ausgebildeter Einwanderer vergeudet wird, indem ihre universitären Abschlüsse und Berufserfahrungen im Ausland nicht anerkannt werden.

sueddeutsche.de: Mit welchen Erwartungen sehen sich Mediziner konfrontiert?

Cindik: In manchen Ländern gibt es ein anderes Krankheitsverständnis. In Deutschland haben wir oft den mündigen Patienten mit viel Vorwissen, der vom Arzt auf Augenhöhe informiert werden will und der über die Art der Behandlung selbst entscheidet. Bei vielen Migranten gibt es dagegen viel stärker die Vorstellung vom Halbgott in Weiß, der ihnen sagen soll, wo es lang geht. Viele Migranten schildern ihre Krankheitssymptome nicht organbezogen. Sie beschreiben ein komplettes Unwohlsein. Wir müssen mit unserem westlichen Krankheitsverständnis dann herausfinden, was der Patient uns sagen will und was die Ursache seiner Beschwerden ist.

sueddeutsche.de: Welche Folgen könnte es haben, wenn das Gesundheitssystem nicht reagiert?

Cindik: Dass sich Unterschiede und Ungerechtigkeit weiter ausbilden und die Gesundheitsversorgung bestimmter Gruppen immer schlechter wird. Das verursacht unnötige volkswirtschaftliche Kosten. Die langfristigen Folgen sind gravierend für das Gesundheitssystem. Viele Migranten kommen bei psychischen Erkrankungen nicht freiwillig zum Arzt, nicht zuletzt weil sie um ihren Arbeits- und Aufenthaltsstatus fürchten. Ihre Behandlungszahlen sind in offenen Stationen der Psychiatrie sehr niedrig, hingegen sind sie in der Forensik, in die zwangseingewiesen wird, überproportional vertreten. Doch je später eine psychische Erkrankung erkannt wird, desto schlechter ist die Langzeitprognose. Eine Gesellschaft ist immer so stark wie ihr schwächstes Glied.

sueddeutsche.de: Was müsste die Politik unternehmen?

Cindik: Es müsste ein Integrationsmonitoring für Gesundheit geben. Die Frage, ob Migranten denselben Gesundheitsstatus wie die Restgesellschaft haben, ist überfällig und berechtigt. Eine interkulturelle Öffnung der Gesundheitseinrichtungen ist ein Muss. Ein Fünftel der Menschen in Deutschland kommt mittlerweile aus einem anderen Land, das ist also kein zu vernachlässigender Randeffekt mehr.

sueddeutsche.de: Welche konkreten Einzelmaßnahmen schweben Ihnen vor?

Cindik: Es müssen migrationsspezifische Programme aufgelegt werden, damit Migranten zum Beispiel bei der Prävention und Rehabilitation auf das gleiche Niveau gebracht werden. Und: Es müssen kultur- und sprachkompetente Behandlerteams eingesetzt werden. Die Versorgungsanforderungen bei Migranten müssen in die Lehrpläne der Universitäten. Weitere wichtige Punkte sind die Mitbeteiligung von Migrantenorganisationen an der Ausgestaltung der versorgenden Institutionen und vor allem die Fortbildung von Entscheidungsträgern im Gesundheitssystem. Wissenschaftler haben bereits 2002 einen Forderungskatalog zur besseren psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migranten aufgestellt, die Sonnenberger Leitlinien. Bislang fanden diese kaum Beachtung.

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