Gestohlene Kinder:Mutterdiebe

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Wenn ein Säugling entführt wird, geht die Täterin meist ganz geplant vor, und manche ist sogar bereit, einen Mord zu begehen, um an ein Kind zu kommen. Doch was treibt Frauen zu solchen Verbrechen an? Ein Fall aus den USA.

Christina Berndt

Niemand schöpfte Verdacht, als Ann Pettway am 4. August 1987 plötzlich Mutter wurde. Das Ganze kam zwar ein bisschen überraschend, niemand hatte etwas von ihrer Schwangerschaft gesehen, aber nun hatte sie eben ein Baby. Sie nannte es Nejdra und zog es groß.

Vermisst: Carlina White. Ann Pettway entführte das Mädchen am 4. August 1987 aus einem Krankenhaus in Harlem (New York). (Foto: dpa)

Wer zuerst Verdacht schöpfte, war das kleine Mädchen selbst. Irgendwie fühlte es sich bei der Frau, bei der es lebte, nicht zu Hause. Seit sie denken kann, habe an ihr das merkwürdige Gefühl genagt, nicht dorthin zu gehören, sagt Nejdra, die inzwischen 23 Jahre alt ist. Die Ahnung wurde stärker, als ihre vermeintliche Mutter ihr nicht einmal eine Geburtsurkunde geben konnte. "Wo hat sie mich nur her?", fragte sich die junge Amerikanerin da.

Sie machte sich auf die Suche im Internet - und erstarrte vor Schreck, als sie dort auf der Seite des National Center for Missing and Exploited Children das Foto eines vermissten Babys sah, das dem ihrer eigenen kleinen Tochter auf unheimliche Weise glich.

Das Foto zeigt ein süßes afroamerikanisches Kind namens Carlina White, das am 4. August 1987 aus einem Krankenhaus in Harlem (New York) entführt worden war. Seine Mutter Joy hatte das 19 Tage alte Kind dorthin gebracht, weil es hohes Fieber hatte. Als Joy White abends zurückkehrte, war ihr Baby nicht mehr da. Es blieb verschwunden, trotz zahlreicher Suchaktionen und einer Prämie von 10.000 Dollar, die als Belohnung für Hinweise ausgesetzt war. "Es war, als wäre mein Herz auseinandergerissen worden", sagt der Vater Carl Tyson.

Vor wenigen Tagen nun ist das Kind doch noch zu seiner Familie zurückgekehrt, als mittlerweile erwachsene Frau, die schon selbst eine fünfjährige Tochter hat. "Mami, weine nicht", sagte sie beim ersten Treffen zu Joy White, die sie nicht gesehen hatte, seit sie 19 Tage alt war. "Ich hatte immer gehofft, dass sie mich finden würde", erzählte diese der New York Post. Joy White hat nach Carlina noch zwei weitere Kinder bekommen, lebt aber von deren Vater getrennt.

Über das Familientreffen nach 23 Jahren sagte die Großmutter einem US-Fernsehsender: "Es fühlte sich so an, als wäre sie ihr Leben lang bei uns gewesen. Sie war keine Fremde. Sie gehörte einfach zu uns." Nejdra, die jetzt wieder Carlina heißt, hatte bei der Polizei angerufen und den Verdacht geäußert, dass sie das damals entführte Baby sei. Nun muss heute keiner lange grübeln, der in Familienfragen Gewissheit haben will. Schnell brachte ein DNS-Test an den Tag, dass sie tatsächlich die Tochter der damals um ihr Kind gebrachten Familie ist. "Wir haben sie wieder! Halleluja!", jubelte ihre Tante.

All die Jahre hatte Carlina nur 45 Meilen von ihrer wahren Familie entfernt gelebt. Eine allzu glückliche Kindheit war es wohl nicht. Sie sei von ihrer drogenabhängigen Stiefmutter viel geschlagen worden, sagte die junge Frau der Presse, einmal sogar mit einem Schuh ins Gesicht. Jetzt sei sie "überwältigt und einfach nur glücklich", dass sie ihre echte Familie wiedergefunden habe.

Ann Pettway hat sich inzwischen der Justiz gestellt. (Foto: AP)

Carlinas Ziehmutter Ann Pettway hat sich inzwischen der Justiz gestellt. Sie wurde per Haftbefehl gesucht - allerdings nicht wegen Verdachts auf Kindesentführung, sondern weil sie nach Betrügereien mit Kreditkarten gegen Bewährungsauflagen verstoßen hatte. Nun drohen ihr 20 Jahre Haft. Auf Vergebung der Familie White kann sie nicht hoffen. Sie sollte 23 Jahre ins Gefängnis gehen, sagte eine Tante - "genauso lange, wie sie uns Carlina weggenommen hat."

Carlinas Geschichte schürt Ängste, die viele Mütter haben. Während Frauen in den 1960er-Jahren ihre Babys noch bedenkenlos vor der Bäckerei im Kinderwagen schlafen ließen, fürchten sich heute viele vor Baby-Räubern. Schon im Krankenhaus werden Wöchnerinnen darauf hingewiesen, ihr Kind niemals allein im Zimmer zu lassen, auch dann nicht, wenn sie duschen.

Gleichwohl sind Baby-Entführungen ein ausgesprochen seltenes Phänomen. Das Bundeskriminalamt kann keine Zahlen nennen, aber in den USA wurden seit 1983 von den knapp 75 Millionen seither geborenen Babys 271 entführt. In jüngerer Zeit wurden zudem 13 Fälle bekannt, in denen Frauen werdende Mütter überfielen und ihnen das Ungeborene mit Messern aus dem Leib schnitten.

Was treibt Frauen zu solchen Verbrechen an? Meist ist es gar nicht die brennende Sehnsucht nach einem Kind oder der Neid auf die Mütter. Es sei eher die Hoffnung, eine Beziehung zu retten, sagen Experten. Die Frauen meinen, sie müssten ein Baby aufbieten, um ihren Mann zu halten. "Es klingt bizarr", sagt Cathy Nahirny vom National Center for Missing and Exploited Children. Aber die Täterinnen fühlten sich, als säßen sie in der Falle. Meist hätten solche Frauen ihren Männern schon erzählt, dass sie schwanger sind.

Die Beziehung sei danach harmonischer geworden, so dass die Frauen eine Fehlgeburt nicht beichten mögen und schließlich zum extremen Mittel des Kindesraubes greifen. Dies mag auch für die heute 49 Jahre alte Ann Pettway gegolten haben, die ihrer Ziehtochter zufolge im Jahr 1987 tatsächlich schwanger gewesen war, dann aber wieder einmal eine Fehlgeburt erlitten habe.

Die Frauen müssten keineswegs krank sein, betont Steffen Lau vom Institut für Forensische Psychiatrie an der Berliner Charité. Selbst dann nicht, wenn sie für ein Baby einen Mord begehen. Es sei ein Irrtum, dass hinter einer grotesken Tat immer eine psychiatrische Erkrankung stehe.

Dem stimmt auch John Rabun vom National Center for Missing and Exploited Children zu. "Sie sind kein Fall für den Psychiater. Sie sind gesund. Sie entscheiden sich bewusst für eine kriminelle Tat." Der Narzissmus solcher Frauen sei aber gigantisch. Sie stellten ihre Bedürfnisse gnadenlos über die der Eltern. "Eine Brieftasche zu stehlen, ist eine Sache", sagt Rabun, "aber ein Neugeborenes?"

© SZ vom 01.02.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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