Geschlechterrollen:Gene oder Gesellschaft?

Was trennt Mann und Frau wirklich voneinander? Ein Gespräch mit dem Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt.

Christina Berndt und Philip Wolff

SZ: Herr Eibl-Eibesfeldt, die unterschiedlichen Fähigkeiten der Geschlechter drängen zur Frage: Sind sie naturgegeben oder Erziehungssache? In der Dominikanischen Republik werden manche Jungen, die Guevedoces, als Mädchen erzogen. Wie kann das passieren - und mit welchen Folgen?

Pärchen

Junges Pärchen: In Männer- und Frauengehirnen laufen unterschiedliche Prozesse ab: "Frauen bedenken auch rationale Inhalte nicht ohne deren emotionale Bedeutung, Männer fokussieren stärker."

(Foto: Foto: laif)

Bei den Guevedoces greift die frühe geschlechtliche Weichenstellung durch das männliche Hormon Testosteron im Mutterleib nicht, es wird nicht korrekt umgewandelt, und so entwickeln sich die äußeren Genitalien dieser Kinder zunächst in die weibliche Richtung. Sie sehen aus wie Mädchen, werden entsprechend erzogen und verhalten sich auch so. Aber wenn dann mit der Pubertät der zweite männliche Hormonschub einsetzt, werden die Jugendlichen auf Mann umgepolt, die Hoden entwickeln sich.

SZ: Guevedoces heißt ja auch nichts anderes als "Eier mit zwölf".

Richtig, und die Klitoris wächst sich plötzlich zum Penis aus. Dann verhalten sie sich eben wie Jungen. Sie schneiden sich die Haare, gehen körperlich harter Arbeit nach, und die meisten heiraten später Frauen.

SZ: Ist das nicht erstaunlich für jemanden, der als Mädchen erzogen wurde?

Warum erstaunlich? Die Idee, dass unterschiedliches Verhalten allein auf Erziehung und Übung zurückgeht, stimmt nun mal nicht. Die Geschlechter unterscheiden sich allein schon morphologisch stark - in der gesamten Menschheitsentwicklung. Der Mann hat 40 Prozent Muskelmasse, die Frau nur 30 Prozent, er ist größer, hat breitere Schultern, das Becken ist schmaler.

Deshalb kann er sich schneller im Gelände fortbewegen. Zwar können Frauen, wenn sie stark trainieren, eine gewisse Vermännlichung erleiden, ihr Hormonhaushalt gerät durcheinander. Aber dass die Geschlechter gleich seien, wie in den vergangenen Jahrzehnten oft behauptet, ist unsinnig.

SZ: Es stimmt aber für den Embryo zu Beginn einer Schwangerschaft.

Aber danach nicht mehr. Schon unsere kleinen Kinder suchen sich geschlechtsspezifisches Spielzeug aus. Und wenn Sie Zeichnungen von kleinen Jungen und Mädchen auch in schriftlosen Gesellschaften anschauen, sind die Bilder ganz unterschiedlich. Jungen zum Beispiel zeichnen gern Flugzeuge oder Darstellungen von Kämpfen.

SZ: Allerdings blieben drei von 18 untersuchten Guevedoces auch nach der Pubertät in ihrer anerzogenen Frauenrolle. Ganz so schwach können Umwelteffekte also offenbar nicht sein, oder?

Man kann den Effekt der Hormone schon beeinflussen, aber insgesamt setzen sie sich durch. Menschen lassen sich nicht einfach gegen ihre biologische Disposition erziehen. Das zeigt auch der Fall Bruce Reimer, der Ende der Sechzigerjahre als knapp Zweijähriger bei einer missglückten Beschneidung seinen Penis verloren hatte, zum Mädchen umoperiert und auch so erzogen wurde. Bruce beziehungsweise Brenda Reimer hatte eine unglückliche Kindheit, Jugend und ein unglückliches Erwachsenenalter. Der Mensch ist nicht aus Wachs, das man beliebig formen kann, weil die Umwelt das wünscht. So hat auch die Angleichung der Geschlechterrollen in den Industrieländern die Frauen ungeheuer diskriminiert. Mit unanständigen Formeln wie "Heimchen am Herd" wurden Frauen da in der traditionellen Rolle belegt.

Gene oder Gesellschaft?

SZ: Wenn man - umgekehrt - eine rein biologische Betrachtungsweise auf die Kultur überträgt, ergeben sich doch erst recht Ungleichbehandlungen, Diskriminierungen.

Aber man kann die Geschlechter nicht gleichmachen. Schaut man in traditionale Kulturen, dann wird klar: Sie funktionieren überhaupt nur mit geschlechtlicher Arbeitsteilung. Solche biologischen Muster setzen sich auch schon früh in den Kindern unserer modernen Gesellschaften durch: Wenn man ihnen Silhouetten von Körperumrissen zeigt und fragt: "Was findest du schöner?", nehmen sich Jungen Männer zum Modell und Mädchen Frauen.

Mit dem Eintreffen der Hormone in der Pubertät ändern sich diese Vorlieben dann in dramatischer Weise. Solches Verhalten muss biologisch vorbereitet sein, andernfalls wären die Menschen wahrscheinlich schon ausgestorben. Allein kulturell wären wir dagegen nicht gut genug abgesichert.

SZ: Warum sollten kulturelle Vorlieben wie die freiere Arbeitsteilung biologischen Zwängen unterliegen?

Wer die Weichen gegen die Biologie stellt, den bestraft sie mit geringem Fortpflanzungserfolg. Das haben wir erkannt und darauf reagiert und stellen jetzt zum Beispiel die Zeit, die sich Frauen der Kindererziehung widmen, sozialversicherungstechnisch gleich. Auch Gehalt müssten Frauen für die Erziehung bekommen.

SZ: Noch einmal zurück zu den Guevedoces: Es gibt auch Interpretationen, denen zufolge Frauen im sozialen Umfeld dieser Kinder eine untergeordnete Rolle spielen. Deshalb sei der biologische Wandel mit zwölf Jahren nur ein willkommener Anlass gewesen, die anerzogene Rolle abzulegen. Gene und Hormone hätten demnach kaum zum Rollenwechsel beigetragen.

Das sind Behauptungen ohne jeden Nachweis. In der Mehrzahl der Kulturen spielen die Frauen eine ganz entscheidende Rolle. Die ganze Erziehung liegt in ihren Händen, und nahezu alle männlichen Initiationsrituale sind vom Gedanken getragen: Jetzt müssen wir den Jungen zum Mann machen und aus der starken Mutterbindung lösen! Das geht bis hin zur gespielten Wiedergeburt: In Neuguinea müssen Jungen zwischen den Beinen mehrerer Männer hindurchkriechen.

SZ: In Neuguinea gibt es auch Guevedoces, sie werden dort Kwoluaatmwol genannt, sind gesellschaftlich nicht so integriert und werden niemals als "echte Frauen" oder "echte Männer" betrachtet.

Schon die geringe Verbreitung dieser Mutation zeigt ja, dass sie auch biologisch nicht von Vorteil ist. Wie wir gebaut sind, geht in eine Kosten-Nutzen-Rechnung ein, die am Fortpflanzungserfolg gemessen wird. Würden sich solche Mutationen durchsetzen, könnte das eine Kultur schwer treffen. Ich verstehe bei uns diesen Trend zur Gleichmacherei nicht, der sich meist darin zeigt, dass Frauen Männermodelle nachahmen sollen.

SZ: Es gibt bei uns eben immer weniger typische Frauen- und Männerarbeit.

Genau, und immer weniger Kinder.

SZ: Könnten die sich angleichenden Männerund Frauenrollen einen evolutionären Effekt haben, werden sich die Geschlechter womöglich auch biologisch ähnlicher?

Es kann schon sein, dass die Erziehung darauf hinwirkt. Vielleicht vermännlichen die Frauen etwas. Aber ob die Männer verweiblichen? Wenn man sieht, wie auch heute noch Männer kollektive Aggression entwickeln, wenn es um Gruppenverteidigung geht, dann habe ich meine Zweifel, ob sich solche Eigenschaften wegzüchten lassen. Und wenn sich eine Gruppe dieses Verhalten einmal wegzüchtete, würde sie wahrscheinlich von anderen, männlich-draufgängerischen Gruppen sehr schnell unterjocht.

Gene oder Gesellschaft?

SZ: Kriege entstehen meist zwischen Populationen mit einem hohen Anteil junger Männer. Wäre vor diesem Hintergrund ein erzieherischer Wandel nicht wünschenswert?

Nein, es gibt andere Möglichkeiten. Wir sind ja familiale Wesen, und aus der Brutverteidigung ist die größere Gruppenverteidigung erst entstanden - gewissermaßen als "prosoziale Aggression". Die richtete sich gegen andere, weil man sich mit denen nicht identifiziert hat. Heute leben wir in größeren Gesellschaften. Müssen wir die Familie also auflösen, weil darin so viel sozialer Nepotismus, so viel Präferenz für die Verwandtschaft gezüchtet wird?

Nein. Wir müssen auch nicht die Nationen zerstören, wenn wir uns mit größeren Gemeinschaften durch Verfassungspatriotismus identifizieren wollen. Wer das fordert, ruft Nationalismen doch erst hervor. Wir sollten begreifen, dass sich Kulturen unterscheiden, und nicht dauernd Unterschiede abschaffen wollen. Ich kann gleichzeitig Wiener sein, Österreicher, Europäer und auch Deutscher. Nur so können wir uns an Gemeinsamkeiten erfreuen. Das gilt auch für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern.

SZ: Allerdings bestätigt eine brandneue Untersuchung, dass die Lebenszufriedenheit von Frauen wächst, wenn Chancen-Unterschiede zu den Männern abgeschafft sind.

Ich bin da skeptisch, was die verschiedenen Kulturen angeht. Bei uns kann ich mir das durchaus vorstellen, da die Frauen oft nicht mehr in Familien eingebunden und mit Kindern und Beruf oft doppelt belastet sind. Wenn man aber bei Naturvölkern nachschaut, etwa bei den Yanomami im venezolanisch- brasilianischen Grenzgebiet, stellt man fest, dass die mit den Kindern gar nicht so belastet sind. Sie stillen zwar drei Jahre lang, aber in den Gemeinschaften gibt es Kindergruppen und abends nimmt der Mann seine Kinder zu sich in die Hängematte.

SZ: Heißt das, auch bei uns könnten sich Frauen und Männer die Erziehungs- und die Erwerbsarbeit teilen?

Nein, Männer verlieren zu schnell das Interesse, wenn sie mit Kindern spielen. Frauen haben viele Millionen Faserverbindungen mehr zwischen den Hemisphären des Gehirns und damit auch zwischen Regionen, die emotionale und rationale Aufgaben wahrnehmen. Bei Männern wird das eher getrennt abgerufen, mal ganz rational und gefühlsmäßig kaum ansprechbar, mal völlig emotional, da versagt dann der Verstand.

Pflegende, soziale Aufgaben erledigen Frauen daher wesentlich besser. Man müsste bei uns nur mehr Anerkennung schaffen für diese Aufgaben. Und man müsste auch die Lehrpläne an den Universitäten ändern, denn sie laufen der Biologie zuwider: Die wichtigen ersten Gebärjahre Anfang 20 verstreichen, und Frauen haben kaum Berufseinstiegsmöglichkeiten nach so frühen Erziehungsjahren.

SZ: Das hieße "zurück zur Natur" für ganze Gesellschaften. Ist die Natur so stark? Sagt man nicht, der Einfluss von Natur und sozialer Umwelt auf den Menschen sei etwa gleich?

So lässt sich das nicht aufrechnen. Zu viel ist uns angeboren. Denken Sie allein an die Emotionen. Ohne Liebe und gerechten Zorn könnten wir gar nicht leben. Man kann Menschen zwar beibringen, wen sie lieben sollen und wovor sie keine Angst haben müssen. Aber die Angst an sich, die Liebe, die Wut lassen sich nicht unterrichten. Und Gleiches gilt für die unterschiedlichen Prozesse in Männer- und Frauengehirnen: Frauen bedenken auch rationale Inhalte nicht ohne deren emotionale Bedeutung, Männer fokussieren stärker: Dies ist Gefühl, jenes ist Sache. Die Erlebniswelten sind von Natur aus verschieden.

SZ: Aber wenn man eines Tages die Hirnprozesse genau kennt, könnte man einem Mann auch die weibliche Gefühlswelt beibringen.

Warum wollen Sie den Mann denn zerstören? Was soll das? Die, die das nicht machen, würden uns mit Vergnügen besiegen und unterdrücken. Denken Sie nur an Olympische Spiele, in denen Männer weltweit im Wettkampf verbunden sind. Ein Wettkampf zwischen Männern und Frauen - das wäre einfach nur unfair. Lassen Sie uns lieber unsere Unterschiede pflegen, statt sie zu zerstören.

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