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Geschichte - Mainz:Schatz an mittelalterlichen Handschriften wird neu erfasst

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Mainz (dpa/lrs) - Hinter den Mauern der Stadtbibliothek Mainz schlummert eine der größten Sammlungen mittelalterlicher Handschriften in Deutschland. Der Kunsthistoriker Christoph Winterer arbeitet daran, diesen Bestand nach wissenschaftlichen Standards zu erfassen - der bestehende Katalog aus dem 19. Jahrhundert ist völlig veraltet. Mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wurden seit 2017 bereits 259 Handschriften gesichtet und katalogisiert. Jetzt liegt eine neue Förderzusage der DFG mit Mitteln von mehr als 130 000 Euro vor, um weitere 258 Codices zu erfassen.

Gut 500 Handschriften wurden bereits von 1980 bis 2005 erfasst. Mit Abschluss des auf vier Jahre angelegten DFG-Projekts sollen dann alle Handschriften im Besitz der Wissenschaftlichen Stadtbibliothek katalogisiert sein. Die Ergebnisse werden in der Internet-Datenbank "Manuscripta Mediaevalia" der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt.

Die Stadt sei sehr dankbar für diese Unterstützung, mit der die Fortsetzung der wissenschaftlichen Erfassung und Katalogisierung dieser einzigartigen Handschriften möglich sei, erklärte Kulturdezernentin Marianne Grosse. "Wir tragen gerne diese große Verantwortung und sind stolz auf den unersetzlichen Wert unserer mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Codices."

Die Stadtbibliothek zählt mit insgesamt mehr als 1000 Bänden zu den zehn größten Sammlungen von Handschriften unter den deutschen Bibliotheken. "Das ist ein Riesenbestand, ein begeisternder Bestand", sagt Winterer. Den Kern bilden mehr als 620 Handschriften aus dem 1320 gegründeten Kartäuserkloster St. Michael in Mainz, das zusammen mit zwei weiteren Klöstern schon 1781 aufgehoben wurde, um die Universität zu finanzieren. Die Bestände der Kartause seien vollständig in die damalige Universitätsbibliothek übergegangen, erklärt Winterer. Nach der Aufhebung der Universität 1798 durch die damalige französische Regierung kam der Bestand in den Stadtbesitz.

Der Handschriftenexperte Winterer nimmt bei seiner Arbeit Buch für Buch aus dem Regal - einige Werke wurden schon seit Jahrzehnten nicht mehr angefasst. Eine wichtige Aufgabe ist die möglichst genaue Datierung. Eher selten haben die Schriften ein Kolophon, also einen Anhang am Schluss mit Angaben zu Titel, Ort und Entstehungsdatum. Oft muss Winterer sich am Stil von Schrift oder Ornamenten orientieren, kann nach genauer Untersuchung aber auch "auf 15 bis 20 Jahre genau sagen, von wann das ist".

Die Forschungsarbeit ist nicht so einsam, wie es klingt. "Es gibt eine kleine Gemeinschaft von internationalen Handschriftenexperten - da schickt man sich Fotos über den Atlantik und fragt nach." So sucht Winterer nach einem Spezialisten, der etwas zu einer vermutlich in England entstandenen Bibelhandschrift sagen kann.

Bei den meisten Schriften handelt es sich um theologische Werke, etwa von Augustinus oder Thomas von Aquin, die in de Klöstern abgeschrieben wurden. Es gibt aber auch Rechtsschriften, etwa aus Oberitalien, und naturwissenschaftliche Werke. Die ältesten Schriften sind 1200 Jahre alt, stammen also noch aus dem frühen Mittelalter.

"Das ist oft eine spannende Rätselaufgabe - was erwartet mich da jetzt", sagt Winterer. Es sei aufregend, Verbindungen festzustellen, etwa wenn er Schriftmerkmale von bereits gesichteten Werken feststelle. Auch sei es einfach ein ästhetisches Vergnügen, eine besonders schöne Schrift zu erkunden, vielleicht mit einem besonderen Buchschmuck, sagt der Wissenschaftler und fügt hinzu: "Ich bin ein glücklicher Mensch, dass ich das machen darf."

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