Archäologie:Maya gegen Teotihuacán: Kampf der Kulturen

Lesezeit: 11 min

Im Dschungel Guatemalas liegen die Ruinen von Tikal, eine der wichtigsten Maya-Städte. (Foto: imago/blickwinkel)

Archäologen entschlüsseln eine rätselhafte Zeit der mittelamerikanischen Hochkulturen: Vor rund 1600 Jahren kam ein fremder Kriegsherr in die Maya-Metropole Tikal. Handelte es sich um eine Eroberung - oder den Einsatz von "Soft Power"?

Von Lizzie Wade

Am 16. Januar 378 westlicher Zeitrechung kam ein Fremder in Tikal an, in der großen Maya-Stadt im Norden Guatemalas. Sein Name war Sihyaj K'ahk', was so viel heißt wie: "Feuer ist geboren". Wahrscheinlich war er ein mächtiger Kriegsherr. Viele Archäologen vermuten, dass er aus Teotihuacán stammte, einer Metropole mit seinerzeit 100 000 Einwohnern, etwa 1000 Kilometer nordwestlich von Tikal gelegen, in der Nähe des heutigen Mexiko-Stadt. Und wahrscheinlich führte er eine Armee an.

Die steinernen Maya-Stelen, die Sihyaj K'ahk's Ankunft dokumentieren, berichten nichts darüber, warum er kam oder wie er von Chak Tok Ich'aak - Jaguartatze -, dem langjährigen König von Tikal, empfangen wurde. Aber der Tag, an dem Sihyaj K'ahk' in die Stadt marschierte, war der Tag, an dem Jaguartatze starb.

Die Gravuren deuten nach Ansicht einiger Forscher darauf hin, dass Sihyaj K'ahk' von einem ausländischen Herrscher namens Speerwerfer-Eule geschickt worden war, zumal zwei Jahre später dessen junger Sohn zum neuen König von Tikal gekrönt wurde. Auf den Porträts, die dort in die steinernen Monumente gemeißelt sind, hält der neue König Yax Nuun Ayiin einen Atlatl, eine Speerschleuder, wie sie von den Kriegern in Teotihuacán benutzt wurde. Außerdem trägt er einen mit Quasten geschmückten Kopfschmuck in dem damals dort üblichen Stil. Einige Bilder von ihm und seinem Vater auf Denkmälern in Tikal sind im flachen, geometrischen Stil der Teotihuacán-Kunst geschnitzt, der sich deutlich von den naturalistischen Porträts der Maya unterscheidet.

Darstellung eines Kopfes aus Teotihuacán. Auch die Maya bewunderten die dortige Kunst. (Foto: Peter Horree/mauritius images)

Archäologen kennen diese Geschichte seit Jahrzehnten. Doch neue Funde haben das Interesse an der Beziehung zwischen Teotihuacán und Tikal neu geweckt. Sie deuten darauf hin, dass die Abläufe komplexer waren als bislang gedacht.

So zweifeln manche Forscher mittlerweile daran, dass Teotihuacán damals Tikal vollständig unterworfen hat - auch wenn es in den Schriften und der Kunst der Maya so dargestellt wird. Vielleicht waren die Ereignisse von 378 n. Chr. nur eine Palastintrige. Sihyaj K'ahk' und seine Armee könnten lokale Maya-Usurpatoren gewesen sein, die sich die Symbolik des fernen Teotihuacán nur aus Propagandagründen angeeignet hatten. "Wir haben erstaunliche neue Funde, die ein deutlicheres Bild zeichnen, wo wir früher nur über Skizzen verfügten", sagt Stephen Houston, Archäologe an der Brown University.

Hätten Maya-Reisende Teotihuacán im vierten Jahrhundert n. Chr. besucht, wären sie auf eine für sie einzigartige Stadt gestoßen. Neben der Hauptstraße, der Straße der Toten, ragten drei riesige Pyramiden auf, die an die großen schneebedeckten Vulkane des Landes erinnern. Die 100 000 Einwohner der Stadt lebten in komfortablen, standardisierten Apartmentkomplexen, erschlossen von einem geordneten Straßennetz. Es war eine egalitäre Gesellschaft. Aber das Militärische war wichtig, das belegen zahlreiche Darstellungen von Kriegern, in den Gräbern finden sich viele Skelette im soldatischen Ornat.

Archäologie
:5000 Jahre altes Schwert entdeckt

Eine Archäologin entdeckte das Artefakt durch Zufall in einem Kloster in Venedig. Es stammt wohl aus einer der ersten Schwertschmieden der Menschheit.

Teotihuacán war ein großartiges städtisches Zentrum, so wie Los Angeles oder New York City

Kaufleute aus entfernten Orten wie Oaxaca im Südosten und der Golfküste versorgten die Märkte Teotihuacáns, Pilger strömten zu religiösen Zeremonien. Einige dieser Fremden ließen sich auch nieder und gründeten eigene Enklaven, die Archäologen anhand von Haushaltswaren und Bestattungspraktiken identifizieren konnten. "Teotihuacán war ein großartiges städtisches Zentrum, fast wie Los Angeles oder New York City, Menschen aus ganz Mesoamerika lebten dort", sagt Karl Taube, Archäologe an der University of California (UC) in Riverside.

Die Bewohner Teotihuacáns waren wahrscheinlich ähnlich fasziniert von der Maya-Region im heutigen Südmexiko, Guatemala, Belize und Honduras. Weit im Osten Mesoamerikas lag es in der Richtung der aufgehenden Sonne, die mythologisch wichtig war. Obwohl in beiden Kulturen Mais das Grundnahrungsmittel war, stammten in Teotihuacán geschätzte Luxusgüter wie Jade, Kakao und Quetzalfedern aus dem Dschungel des Maya-Tieflandes. "Es war eine Quelle des Reichtums und der Fülle", sagt Taube. Von der kühlen Hochebene Teotihuacáns aus muss die Region wie ein Paradies ausgesehen haben.

Diplomatie und Handel mit den Maya waren jedoch mühsam, da ihr Gebiet politisch ähnlich fragmentiert war wie das antike Griechenland. Es bestand aus zahlreichen weitgehend unabhängigen Stadtstaaten, die aber durch gemeinsame Religion und Kultur miteinander verbunden waren. Die mächtigsten Staaten wie Tikal und sein nahe gelegener Rivale Calakmul setzten auf die Loyalität kleinerer Städte. Aber die Allianzen wechselten ständig, und kein Maya-König schaffte es jemals, die gesamte 390 000 Quadratkilometer große Region politisch zu einen. Teotihuacán hatte wahrscheinlich ständig sich ändernde Beziehungen zu verschiedenen Städten.

Der Austausch zwischen den beiden Gesellschaften hinterließ viele Spuren in Kunst und Kultur. Am engsten waren ihre Beziehungen im vierten und fünften Jahrhundert n. Chr., in der sogenannten frühen Klassik Mesoamerikas. Allerdings streiten die Forscher darüber, ob diese Beziehungen friedlich und auf Gegenseitigkeit beruhten oder ob sie von Gewalt und Herrschaft geprägt waren.

An einem sonnigen Sommermorgen arbeitet die Archäologin Nawa Sugiyama vom UC Riverside in einem Tunnel, den ihr Team unter einer beeindruckenden Pyramide gegraben hat. Direkt an der Straße der Toten und zwischen den gewaltigen Sonnen- und Mondpyramiden befindet sich das Gebäude auf dem Platz der Säulen, der aus mehreren miteinander verbundenen Plätzen und großen Pyramiden besteht. Sugiyama kauert unter der niedrigen Decke des Tunnels und inspiziert Dutzende Keramikscherben, die von ihren Studenten und Projektmitarbeitern sorgfältig ausgegraben wurden.

Die Gesichter waren aus den Gemälden weggekratzt, ein Akt der absoluten Auslöschung

Die Scherben zeigen eine Mischung aus Maya- und Teotihuacán-Stil und zeugen nicht von Gewalt, sondern von Feierlichkeiten: Die feine Keramik wurde zerbrochen, um sie am Ende eines Festes als eine Art Opfergabe feierlich in eine Grube zu geben. Die Forscher haben bereits mehr als 10 000 Keramikstücke ausgegraben, durchschnittlich 250 pro Tag. "Ich habe so etwas noch nie gesehen", sagt Sugiyama. Sie vermutet, dass die Bewohner Teotihuacáns und die Maya-Gäste gemeinsam gefeiert haben, vielleicht um die Fertigstellung der Pyramide zu feiern. Die Radiokarbondatierung verbrannter Speisereste, Kaninchenknochen, Mais und Yucca belegt, dass das Fest zwischen 300 und 350 n. Chr. stattgefunden haben muss.

Auf der anderen Seite des Platzes haben Sugiyama und ihre Mitarbeiter Mauerwerk entdeckt, das einst mit Maya-Mustern verziert war, in lebendigen Farben wie Blau und Grün. Vielleicht waren die Maya, die hier lebten, Diplomaten oder Adlige, die Bündnisse stärken und königliche Ehen erleichtern sollten, sagt David Carballo, Archäologe an der Boston University.

"Sie praktizieren ihre eigenen Bräuche, was für ein friedliches Zusammenleben mit dem Rest der Teotihuacán-Gesellschaft spricht", sagt Verónica Ortega, Archäologin am mexikanischen Nationalen Institut für Anthropologie und Geschichte, die gemeinsam mit Sugiyama das Grabungsprojekt leitet.

Aber einige Jahrzehnte nach dem Fest, laut Radiokarbondatierung zwischen 350 und 400 n. Chr., muss sich etwas verändert haben. Aus dieser Zeit fand das Team Bilder, die von den Wänden gerissen und zerbrochen worden waren, Gesichter waren abgekratzt. "Absolut ausgelöscht", sagt Sugiyama. "Das war ein Akt der absichtlichen Zerstörung."

In Teotihuacán finden sich viele Wandbilder, die von Maya-Künstlern gemalt wurden. (Foto: imago)

Ortega widerspricht, sie sieht auch hier ein Ritual, an dem Teotihuacáner und Maya teilnahmen - vergleichbar der zerbrochenen Keramik bei den früheren Feierlichkeiten. Sugiyama weist jedoch darauf hin, dass das Wegkratzen einzelner Gesichter ein extremer Akt der Auslöschung ist, unwahrscheinlich, dass die Maya-Bewohner dem zugestimmt hätten.

Zudem fanden die Archäologen in einer nahegelegenen Grube zahlreiche menschliche Skelette, die dunkle Fragen aufwerfen: Sie waren zerstückelt, was bei Bestattungen in Teotihuacán eigentlich nicht üblich war - die Überreste eines Massakers? Einige Schädel sind abgeflacht, bei einigen Zähnen finden sich Löcher für Schmuck, beides typische Maya-Praktiken. Wenn jetzt auch noch Isotopen- und DNA-Analysen die Identität der Skelette bestätigen, wären sie womöglich ein Beleg für Gewalt an den Maya. Wobei erste Datierungen erstaunlicherweise darauf hindeuten, dass die Knochen ausgerechnet zur Zeit des vermeintlich friedlichen Scherbenfestes deponiert wurden.

Klarer ist die Lage bei den Wandbildern: Sie wurden in dem Zeitraum zerstört, in dem auch Sihyaj K'ahk' im Jahr 378 n. Chr. Tikal erreichte und die Teotihuacáner Städte im Maya-Tiefland angriffen. "Es könnte sein, dass sich die diplomatischen Beziehungen aus irgendeinem Grund verschlechtert hatten", sagt Carballo.

Als Sihyaj K'ahk' in Tikal ankam, fand er eine kleinere, weniger zentralisierte Stadt als Teotihuacán vor. Die königlichen Paläste und Tempel standen auf Hügeln, die noch immer von Dschungel umgeben waren. Straßen verliefen durch den Wald und verbanden die Gebäudekomplexe der Elite. Über sie gelangten die Bürger von ihren verstreuten Bauernhöfen zu den Märkten und Zeremonien der Innenstadt.

Hohe Steinmonumente, eng beschrieben, dokumentieren Tikals Geschichte. Nur die Reichen und Mächtigen konnten diese Texte lesen: Die Geschichte der Maya wurde von Eliten für Eliten geschrieben. In den frühen 1970er-Jahren begann die Inschriftenkundlerin Tatiana Proskouriakoff zu rekonstruieren, was 378 n. Chr. in Tikal geschah. Sie sprach erstmals von der "Ankunft von Fremden", vermutlich aus Zentralmexiko.

Im Jahr 2000 gelang dem Archäologen David Stuart von der Universität von Texas, Austin, ein umfassendes Verständnis der Texte. Dank der Fortschritte bei der Entschlüsselung der Maya-Schrift konnte er die eingravierten Glyphen lesen; einschließlich der Namen und Beziehungen von Sihyaj K'ahk', Jaguartatze und Speerwerfer-Eule. Die historischen Aufzeichnungen werfen jedoch mehr Fragen auf als sie beantworten.

Eine besonders heiße Frage ist bis heute, für wen genau Sihyaj K'ahk' gearbeitet hat. Er folgte offenbar den Befehlen von Speerwerfer-Eule, die auf den Denkmä-lern als ausländischer König beschrieben wird, der von 439 bis 374 n. Chr. ein entferntes Land regierte. Da die Schrift und das Porträt in dem für Teotihuacán typischen geometrischen Stil geschnitzt wurde, glaubt Stuart, Speerwerfer-Eule sei der König von Teotihuacán gewesen, möglicherweise genau zu der Zeit, als die Wandbilder am Platz der Säulen zerstört wurden.

Allerdings sind viele Archäologen davon überzeugt, dass es in Teotihuacán gar keinen König gegeben hat, schließlich wurde dort noch nie ein königliches Grab oder die Darstellung eines Monarchen gefunden. Sie vermuten, dass die Stadt von einem Rat oder auf eine andere kooperative Weise regiert wurde. Ein weiteres Indiz für diese Annahme ist, dass die meisten Kunstwerke dort zwar die Kleidung und Ausrüstung der Menschen detailliert darstellen, aber nicht individuelle Gesichtszüge. Womöglich ein Hinweis darauf, dass Ämter wichtiger waren als Personen. Bilder von Greifvögeln mit Atlatls - so wie in der Glyphe von Speerwerfer-Eule in Tikal - finden sich über Jahrhunderte in Teotihuacán. "Ich denke, die Glyphe steht für ein Amt, vielleicht eine militärische Rolle in Teotihuacán", sagt Carballo. Viele Menschen könnten sie im Laufe der Zeit besetzt haben.

War der neue König vielleicht nur ein Maya-Ursupator in ausländischer Kleidung?

Er und andere Fachkollegen widersprechen der Vorstellung, dass die Inschriften in Tikal die Fundlage in Teotihuacán widerlegen. Vielleicht haben die Maya die Rolle von Speerwerfer-Eule einfach falsch verstanden, weil sie die Monarchie gewohnt waren, sagt Carballo. Womöglich haben Sihyaj K'ahk' und die anderen Invasoren dieses Missverständnis sogar gewollt, sagt der Archäologe Michael Smith von der Arizona State University in Tempe. "Angenommen, du bist der Spindoktor für Sihyaj K'ahk' und versuchst, diese Maya-Könige davon zu überzeugen, dass dieser Typ wirklich etwas ist. Was wirst du sagen? Dass er aus Teotihuacán stammt, wo die Leute sich selbst regieren? Oder wirst du sagen: Dieser Typ wird vom König der größten Stadt geschickt, von der man jemals gehört hat?"

Wer auch immer Sihyaj K'ahk' geschickt hat, Francisco Estrada-Belli von der Tulane University glaubt nicht, dass sich der Kriegsherr mit Tikal zufrieden gegeben hat. So entdeckte der Archäologe in der Stadt Holmul, 35 Kilometer östlich von Tikal, Wandgemälde, die Teotihuacán-Krieger bei der Krönung eines neuen Herrschers zeigen. Die Bilder finden sich in einem Gebäude, das am ersten Jahrestag der Ankunft Sihyaj K'ahk's in Tikal errichtet wurde. Die Aufzeichnungen deuten darauf hin, dass "Sihyaj K'ahk' innerhalb weniger Jahre in einer Reihe wichtiger Maya-Städte ihm zugeneigte Könige installiert hat", sagt Estrada-Belli. "Es war ein Wendepunkt."

Vorstellbar ist jedoch auch, dass Sihyaj K'ahk' und Speerwerfer-Eule überhaupt nicht aus Teotihuacán stammten und sich einfach auf diese großartige Stadt beriefen, um ein Maya-Publikum zu beeindru-cken. Die Mythologie und Religion der Maya schätzte ausländische Güter sehr, und Teotihuacán war der angesehenste, weit entfernte Ort in Mesoamerika. Es gibt nur wenige Beweise dafür, dass Teotihuacáner in Tikal leben, bemerkt Joyce Marcus, Archäologin an der Universität von Michigan, Ann Arbor. "Die einfachste Erklärung ist, dass Tikals neuer König ein Maya-Usurpator war, der sich in angesehene ausländische Kleidung gehüllt hat", sagt sie. "Indem er sich mit dem Putz mexikanischer Hochland-Krieger ausstattete, verbreitete er die Botschaft, dass er militärische Fähigkeiten besaß."

SZ PlusSchifffahrt
:Als die Piraten rechnen lernten

Mit der Entdeckung Amerikas begann für die Europäer das Zeitalter der Ozeanüberquerungen. Fortan mussten alle Seeleute Mathe büffeln - auch die Freibeuter.

Von Marlene Weiß

"Die Geschichte von der Eroberung klingt aufregend und ist leicht zu verstehen", sagt Geoffrey Braswell, Archäologe an der UC San Diego. Aber auch er glaubt, dass die Ereignisse in Tikal einen Konflikt zwischen Maya-Gruppen widerspiegeln, von denen eine die Symbole einer fremden Macht übernahm. Es gebe in der Geschichte viele Beispiele solcher kulturellen Aneignung. Chinesisches Porzellan war im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts ein Statussymbol, im 19. Jahrhundert sprachen die Russen der Oberschicht Französisch miteinander.

Neue naturwissenschaftliche Daten stützen die These von Marcus und Braswell. So wurde etwa das Grab von Yax Nuun Ayiin geöffnet und sein Skelett untersucht. Die Analyse von Strontiumisotopen in seinen Zähnen ergab, dass er in der Gegend von Tikal aufgewachsen war. Ähnliches gilt für K'inich Yax K'uk' Mo', dem Gründer einer neuen Dynastie in Copán, einer Maya-Stadt in Honduras. Auch ihm wurde eine aztekische Herkunft zugeschrieben, abgebildet mit Kleidung im Teotihuacán-Stil; einschließlich einer typischen "Schutzbrille", die an den Regengott Zentralmexikos erinnert. Auch bei ihm schlossen die Isotope eine Herkunft aus Zentralmexiko aus. "Finden Sie uns einen Körper im Maya-Tiefland, der den Isotopen zufolge aus Teotihuacán stammt und einen Speer in der Hand hält", sagt Braswell. Dann würde er eher glauben, dass Teotihuacán Tikal erobert hat.

"Ich brenne deine Tempel nieder, nehme deine Frauen, ich lösche dich von der Erde"

Edwin Román Ramírez hat sich auf die Suche gemacht. Als Archäologe der Pacunam-Stiftung für Maya-Kultur- und Naturerbe leitet er neue Ausgrabungen in Tikal, dort fahndet er nach einer ethnischen Enklave von Teotihuacánern. Diesen Sommer will er erste Ergebnisse vorstellen. Er glaubt, dass Tikal für Teotihuacán ein strategisch und wirtschaftlich wichtiger Außenposten war.

Womöglich hat Teotihuacán mehr auf Soft Power gesetzt als auf rücksichtslose Kolonialisierung. Das Leben der normalen Maya-Bürger in und um Tikal jedenfalls scheint sich nach Sihyaj K'ahk's Ankunft nicht groß geändert zu haben, sagt Bárbara Arroyo, Archäologin an der Francisco Marroquín University. Deshalb stellt sie das Eroberungsszenario infrage. Man müsse sich im Vergleich nur mal das Römische Reich anschauen: Armeen in ganz Europa, eine verbindliche Staatsreligion, umgebaute Städte und Gouverneure, die direkt nach Rom berichteten.

"Ein Imperium kann sehr verschiedene Ausprägungen annehmen", entgegnet Sue Alcock, Archäologin der Universität von Michigan, die sich mit den griechischen Provinzen des Römischen Reiches befasst. "Es kann sehr aggressiv vorgehen: Hier bin ich, brenne deine Tempel nieder, nehme deine Frauen, ich lösche dich von der Erde." Oder es kann sanfter sein - "die Eliten beider Kulturen kommen zusammen und gestalten das soziale System neu".

Eines ist unbestritten: Nach den Auseinandersetzungen erlebte Tikal seine Blütezeit

Teotihuacán dominierte mit Sicherheit Teile Zentralmexikos, sagt Smith. Im mexikanischen Bundesstaat Morelos, in Orten 85 Kilometer südlich der Stadt, fand er jede Menge Keramik und Obsidian im Teotihuacán-Stil. Aber weiter entfernt wurde das Reich zum Flickenteppich. Dort habe Teotihuacán nur noch strategisch wichtige Orte kontrolliert, sagt Claudia García-Des Lauriers, Archäologin an der California State Polytechnic University in Pomona. Sie hat in Los Horcones an der Küste des mexikanischen Bundesstaates Chiapas gegraben. Die Hauptpyramide dort und der zentrale Platz sind kleinere Versionen von Teotihuacáns berühmter Mondpyramide, die Anlage wurde zwischen 600 bis 400 v. Chr. benutzt. Der Ort befindet sich an einem schmalen Gebirgspass, durch den eine Handelsroute führte. So konnte Teotihuacán die Warenströme von Kakao und Quetzalfedern kontrollieren.

Teotihuacáns Einfluss erstreckte sich bis zur Pazifikküste Guatemalas, mehr als 1000 Kilometer entfernt. Dort entdeckten Archäologen Haushaltsgegenstände im Teotihuacán-Stil, darunter Hunderte Räuchergefäße, die für häusliche religiöse Zeremonien verwendet wurden, sagt Oswaldo Chinchilla, Archäologe an der Yale University. Er und viele Fachkollegen glauben, dass eine Kolonie von Teotihuacánern in der Region Escuintla lebte und möglicherweise wichtige Land- und Seehandelsrouten beherrschte.

Neue Hinweise auf die Ausdehnung des Teotihuacán-Reiches könnten Luftaufnahmen der Pacunam aus dem Jahre 2016 liefern. Damals hatten Forscher mehr als 2000 Quadratkilometer Fläche in Nordguatemala mittels Lidar erfasst, einer laserbasierten Fernerkundungstechnik. Sie enthüllte Zehntausende zuvor unbekannte archäologische Landmarken, darunter Festungsanlagen wie abgeflachte Hügel mit Wachtürmen. "Man bekommt den Eindruck einer streng bewachten Landschaft", sagt Houston. Im Mai werden an einigen der neuen Fundstätten Ausgrabungen beginnen, vielleicht klären sie die Frage, ob die Anlagen eine Reaktion der Maya auf eine Bedrohung durch Teotihuacán waren.

Eines ist unbestritten: Die Ankunft Sihyaj K'ahk's veränderte den Verlauf von Tikals Geschichte. "Nach dieser Invasion erreichte Tikal eine neue Größe", sagt Thomas Garrison, Archäologe am Ithaca College. Mit dem wachsenden Einfluss Tikals entwickelte sich "vieles, das wir als klassische Maya-Kultur kennen", bestätigt Román Ramírez, insbesondere habe sich die Schrift vereinheitlicht. "Auch wenn es möglicherweise Teotihuacán unterlegen war, letztendlich wurde Tikal der große Gewinner."

Gegen 550 n. Chr. zerfiel Teotihuacán, nach einem Aufstand der eigenen Bürger brannte die Innenstadt nieder. Aber noch Jahrhunderte später feierten Tikals Könige militärische Siege, bei denen sie sich als Teotihuacán-Krieger verkleideten. Was auch immer im Jahr 378 n. Chr. geschah, die Ereignisse hallten lange nach.

Dieser Beitrag ist im Original im Wissenschaftsmagazin Science erschienen, herausgegeben von der AAAS. Deutsche Bearbeitung: cwb. Weitere Informationen: www.aaas.org.

© SZ vom 14.03.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusGeschichte
:Die Ärztin, die es nie gab

Der Legende nach war Merit Ptah vor mehr als 4000 Jahren im alten Ägypten die erste Medizinerin. Heute ist sie eine Ikone der Frauenbewegung. Doch ein Medizinhistoriker belegt nun: Sie ist eine Erfindung aus den 1930er-Jahren.

Von Werner Bartens

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: