München (dpa) - Der Historiker Andreas Wirsching sieht in der Coronavirus-Pandemie das mögliche Ende einer Epoche. „Es spricht vieles dafür, dass das Jahr 2020 als eine epochale Zäsur in die Geschichte eingehen wird“.
„Zwar wissen wir das jetzt noch nicht so genau, aber einiges ist erkennbar, insbesondere was die Globalisierung betrifft“, sagte der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin der Deutschen Presse-Agentur.
Wirsching, Inhaber des Lehrstuhls für Neueste Geschichte an der Universität München, geht davon aus, dass das Zeitalter der Internationalisierung und Globalisierung der vergangenen 50 Jahre starken Veränderungen unterworfen, „wenn nicht beendet“, werde.
„Die internationale Mobilität - ein wichtiges Merkmal des Globalismus - ist seit einem halben Jahr fast auf Null zurückgefahren, was schlicht atemberaubend ist“, sagte Wirsching (61). „Auch die internationale Arbeitsteilung, die ja die Globalisierung stark angetrieben hat, wird auf den Prüfstand gestellt. Die Pandemie hat die Abhängigkeit Europas und des Westens von in Asien hergestellten Produkten wie Masken oder auch Medikamenten offenbart. Auch das wird nicht folgenlos bleiben.“
Die Bedeutung der Nationalstaaten, die manche im Zeitalter der Globalisierung schon als stark abnehmend betrachteten, habe wieder zugenommen. „Der Nationalstaat und die ihm nachgeordneten Behörden und Institutionen wie bei uns die Länder und Kommunen waren die einzigen politisch-administrativen Akteure, die in der Pandemiekrise handlungsfähig waren - bis hin zu der Schließung der Grenzen.“ Dagegen sei keine der internationalen oder supranationalen Einrichtungen wie die WHO oder die EU in der Lage gewesen, wirksame Maßnahmen zu ergreifen. Die Epoche der Globalisierung mit ihrer weltweiten Verflüssigung von Grenzen und dem zunehmend freien Verkehr von Finanzen, Waren und auch Menschen sei stark verlangsamt worden.
Die Corona-Pandemie ist laut Wirsching „mit früheren Zäsuren kaum vergleichbar“. Bei den letzten beiden großen Grippe-Pandemien 1957 und 1968 bis 70 seien längst nicht so gravierende Maßnahmen ergriffen worden. „Insofern trifft es schon zu, wenn gesagt wird, wir stünden heute vor der größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings darf man nicht vergessen, dass der Mauerfall und das Ende des Kommunismus für Millionen Menschen in Europa die Lebensbedingungen auf einen Schlag veränderten. Aber das war ein politisches Datum und von sehr anderem Zuschnitt.“
Wirsching glaubt, „dass die demoskopisch fassbare Stimmung besser als die Lage ist“. Die ökonomischen Konsequenzen der Pandemie „werden gravierend“. Es bestehe die Gefahr eines langwährenden Nachfrageeinbruchs mit vielen Pleiten. Er befürchte „aller vordergründigen Einigkeit zum Trotz noch bittere politische Rechnungen“. „Grenzen werden wieder bedeutsamer, und wir können nur hoffen, dass die Freizügigkeit etwa innerhalb Europas - eine der großen Errungenschaften der EU - nicht dauerhaft beschädigt wird.“
Dass die Pandemie die Menschen grundsätzlich verändere, glaubt der Historiker allerdings nicht. „Ich halte die Vorstellung, die Pandemiekrise habe ja vielleicht auch „Gutes“ und berge neue „Chancen“, für kurzsichtig und auch zynisch gegenüber denen, die um ihre Existenz oder Gesundheit bangen müssen. Die Pandemie werde eher ein Katalysator bestehender Tendenzen. „Das kann positive Entwicklungen betreffen wie den Klimaschutz, technologische Innovationen oder auch einen kritischeren Umgang mit dem Massentourismus.“ Sie könne aber auch soziale Ungleichheit und Nationalismus befördern.
Das 1949 gegründete Institut für Zeitgeschichte (IfZ) ist eine außeruniversitäre Einrichtung, die die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart in ihren europäischen und globalen Bezügen erforscht. Als erstes Institut sollte es einst vor 70 Jahren die nationalsozialistische Diktatur wissenschaftlich erschließen.
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