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Geschichte - Hamburg:Stutthof-Prozess: Wachmänner mussten alles können

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Hamburg (dpa/lno) - Die Wachleute im KZ Stutthof sind nach Angaben des Göttinger Historikers Stefan Hördler für alle von ihnen geforderten Aufgaben ausgebildet und herangezogen worden. "Es gab ein Rotationssystem", sagte Hördler am Montag im Prozess gegen einen ehemaligen, heute 93 Jahre alten Wachmann vor dem Hamburger Landgericht. Er halte es für unwahrscheinlich, dass der Angeklagte nur auf einem Wachturm gestanden oder gelegentlich zur Arbeit verpflichtete Häftlinge nach draußen begleitet habe, sagte der Wissenschaftler. Nach seinen Angaben mussten die Wachleute auch Transporte von "Juden-Häftlingen" in Empfang nehmen und bewachen. Außerdem sollten den Vorschriften zufolge Häftlinge erschossen werden, die flüchten oder aufbegehren wollten. "Dieser Radikalisierungsschritt hat alles ermöglicht", sagte der Historiker.

Dem Angeklagten wird Beihilfe zum Mord in 5230 Fällen vorgeworfen. Durch seinen Wachdienst von August 1944 bis April 1945 soll er "die heimtückische und grausame Tötung insbesondere jüdischer Häftlinge unterstützt" haben. Zu seinen Aufgaben habe es gehört, die Flucht, Revolte und Befreiung von Gefangenen zu verhindern. Der Prozess findet vor einer Jugendkammer statt, weil der Beschuldigte zur Tatzeit erst 17 bis 18 Jahre alt war.

Nach den Schilderungen des Historikers sah das Rotationsprinzip im Konzentrationslager Stutthof nach 12 Stunden Dienst, der zwischen Einsatzorten wechselte, 12 Stunden Bereitschaft vor. Nach einem Schreiben des Lagerkommandanten Paul Werner Hoppe vom 6. November 1944, aus dem der Historiker zitierte, gab es eine laufende Belehrung der Wachleute. Für diejenigen, die Merkblätter nicht lesen konnten, sei extra ein Bilderbuch angefertigt worden: "Es war fast schon infantil nach richtig und falsch aufgegliedert." Richtig sei es für die Wachmannschaften gewesen, bei der Ankunft von Deportierten sich gleichmäßig in Reihen aufzustellen, mit dem Gewehr im Anschlag und notfalls zu schießen. Der Angeklagte hatte im Prozess ausgesagt, niemanden erschossen zu haben. Ein Bilderbuch - wie das in Auszügen gezeigte - hat er nach eigenem Bekunden nicht gesehen.

Auf zehn Seiten seien die Aufgaben eines Wachpostens aufgelistet gewesen, um "die Kontrollfähigkeit eines Lagers, dass exorbitant überfüllt war," zu erhalten, berichtete der Historiker. Wachvergehen wie das Schlafen im Dienst oder Trunkenheit seien drakonisch bestraft worden, unter anderem mit verschärftem Arrest. Der Angeklagte selbst hatte im Prozess geschildert, dass er auf einem Wachturm eingedöst war. Statt wie vom Aufpasser angekündigt, erschossen zu werden, habe ihn sein direkter Vorgesetzter aber nur ermahnt. "Ich bin mit einem blauen Auge davongekommen", berichtete der Angeklagte. Bei Erstvergehen habe es oftmals nur eine Ermahnung gegeben, ergänzte nun der Historiker.

Von Juli bis September 1944 habe es eine hohe Dichte an Judentransporten nach Stutthof gegeben, berichtete Hördler. Am 1. Januar 1945 seien im KZ 18 648 Männer und 33 315 Frauen registriert gewesen. Dort sei ein Aufseher für 49 Häftlinge zuständig gewesen. Dagegen habe der Wachschlüssel im gesamten nationalsozialistischen KZ-System 1:17 betragen. "Stutthof hatte mit Abstand eines der ungünstigsten Verhältnisse", sagte Hördler.

Das KZ entwickelte sich nach Angaben des Historikers zu einer Drehscheibe für ein- und ausgehende Massentransporte aus anderswo aufgelösten Lagern. Arbeitsfähige Männer wurden großteils direkt an andere KZ mit angeschlossener Rüstungsproduktion weitergeleitet, arbeitsfähige Frauen unter widrigsten Bedingungen zu schweren Erdarbeiten nahe Stutthof herangezogen. Wer zu schwach war oder krank wurde, blieb im Hauptlager, aber: "In Sterbezonen wurden die Menschen sich selbst überlassen. Sie wurden durch gezieltes Unterlassen ermordet", sagte der Historiker. Stutthof habe eine der höchsten Sterberaten des KZ-Systems gehabt. "Das Lager war am Rande der Funktionsfähigkeit."

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