Süddeutsche Zeitung

Volk der Luwier:Die unbekannte Weltmacht

Vor 3000 Jahren brachten ominöse Seevölker die Hochkulturen des Mittelmeers zu Fall, die Welt versank im Krieg. Jetzt hat man mit den Luwiern die Schuldigen ausgemacht - sie könnten der Schlüssel zu einem der größten archäologischen Rätsel sein.

Von Werner Siefer

Wer die Weltgeschichte erfassen will, für den ist es normal, die Landkarte in Imperien zu unterteilen. So lässt sich heute ein riesiger Kreis um Peking ziehen, je einer um Washington und Moskau. In Europa wäre man vielleicht etwas unschlüssig. Genügt ein großer Radius oder setzen wir besser mehrere kleine, weil der politische Einfluss dort nicht weit reicht?

Geopolitiker und Archäologen gleichen sich hier. Sie denken in Imperien. Und so schien die Welt der Ägäis in der Bronzezeit geordnet zu sein - dort, wo die westliche Kultur vor mehr als drei Jahrtausenden begann: Auf dem Gebiet der heutigen griechischen Halbinsel Peloponnes herrschten die Mykener, die so berühmte Paläste wie Mykene, Tiryns oder Pylos hinterließen. Dazu kam das minoische Zentrum auf und um Kreta, das von dem mit Delfin- und Wasserpflanzen-Malereien geschmückten Palast von Knossos aus regiert wurde. Daneben die Kykladen, Herrscher der ägäischen Inselwelt und in mancher Ausstellung gefeiert. Um diese Mittelpunkte gruppierten sich zwei weitere Weltmächte: Die alten Ägypter am Nil und ganz im Osten, was heute Anatolien heißt, das Reich der Hethiter mit ihrer Hauptstadt ḪHattuša.

Die damalige Epoche birgt zwei große Rätsel. Nun stehen sie womöglich vor der Auflösung

Doch einen wichtigen Kreis haben die Gelehrten womöglich schlicht vergessen, wie der deutsche Geoarchäologe Eberhard Zangger in seinem neuen Buch behauptet ("The Luwian Civilization: The Missing Link in the Agean Bronze Age), unterstützt von der Stiftung Luwian Studies, der auch der deutsche Literaturwissenschaftler und Mäzen Jan Philipp Reemtsma angehört, ebenso wie der Physiker Olaf Kübler, früherer Präsident der ETH Zürich. Vierter und womöglich sogar entscheidender Machtfaktor in der Bronzezeit war demnach ein Volk namens Luwier, so ist der Forscher überzeugt. Zangger lokalisiert sie in der westlichen Türkei, einer Weltgegend, in der zwar das sagenumwobene und von Homer besungene Troja liegt, das archäologisch aber immer noch ein weithin unbekanntes Gebiet ist.

Die Luwier? Bisher kennen weder Gymnasiasten noch manche Fachleute ein solches Volk oder gar deren Zivilisation. Doch die Chancen stehen nicht schlecht, dass es die lange Übersehenen in die Galerie der bronzezeitlichen Hochkulturen schaffen. Denn Zangger, Präsident der Zürcher Stiftung Luwian Studies, zaubert nicht einfach nur ein Kaninchen aus dem Hut. Die Luwier, davon ist er überzeugt, sind der Schlüssel zu den beiden größten Rätseln der Bronzezeit.

Zum einen ist das Troja und der Trojanische Krieg. Gegen die Feste zogen die Mykener mit einem gigantischen Tross. 100 000 Mann, darunter ihr König Agamemnon und Achilles, sowie 1200 Schiffe belagerten die legendären Mauern zehn Jahre lang und lieferten sich einen verlustreichen Krieg, der mutmaßlich um 1200 v. Chr. stattfand. So berichtet es zumindest der antike Dichter Homer in seiner Illias. Die Griechen gewannen zwar, aber am Ende hielt es die Nachwelt, insbesondere der Adel, mit den unterlegenen Trojanern.

2200 v. Chr.

begann in Mitteleuropa die Bronzezeit, also jene Zeit, in der die Menschen Bronze herstellten. Im Mittelmeerraum begann sie zum Teil deutlich früher, in Ägypten etwa gegen 2700 v. Chr.

In der späten Bronzezeit stieg die Bevölkerungsdichte, und es bildeten sich zahlreiche Staaten. Insbesondere im östlichen Teil des Mittelmeers wurde ein reger Handel betrieben, erst von den Mykenern, dann auch von den Phönizieren. Den Händlern folgten dann die Kolonisatoren, die an den Küsten neue Siedlungen anlegten. Dabei kam es zu zahlreichen Konflikten.

Caesar und nach ihm die römischen Kaiser sowie ganze Generationen europäischer Herrschergeschlechter begründeten ihre Genealogie und damit ihren Machtanspruch mit der trojanischen Elite. Städte wie Rom, Paris oder London reklamieren in ihren Gründungsmythen, nach dem Modell von Troja erbaut worden zu sein. Bis heute ist aber offen, was sich mit diesem Troja eigentlich verbindet. Archäologisch gesehen liegt es in Niemandsland. Sein früherer Ausgräber, Manfred Korfmann von der Universität Tübingen, nannte die Siedlung gar ein "Piratennest". Warum aber dann das Aufheben?

Das zweite Rätsel dreht sich um den "Seevölkersturm". Just zur Zeit des Trojanischen Krieges überfielen Unbekannte wie aus dem Nichts die ägäischen Städte und rissen die bronzezeitlichen Hochkulturen in den Untergang. "Nach heutigem Verständnis war es ein Weltkrieg", sagt Zangger. Das Reich der Hethiter zerfiel, der minoische Palast von Knossos wurde ebenso zerstört wie die Machtbauten der Mykener. Im heutigen Syrien und in Libanon fielen Festungen in Schutt und Asche, darunter die Handelsmetropole Ugarit. Selbst die militärisch gut organisierten Ägypter, namentlich die Soldaten des Pharaos Ramses III., konnten sich des Angriffs der seltsamen Seevölker nur mit Mühe erwehren. Bis heute weiß niemand zu sagen, wer diese Seevölker waren und wieso sie aus dem Nichts auftauchten und nach vollbrachter Zerstörung wieder verschwanden. Dem Untergang der Hochkulturen gegen 1200 v. Chr. folgte eine vier Jahrhunderte währende dunkle Zeit, aus der kaum Nennenswertes überliefert ist, Selbst die Kenntnis der Schrift schien in weiten Gebieten verloren gegangen zu sein.

Mit den bislang weitgehend unbekannten Luwiern auf dem historischen Schachbrett lassen sich die Rätsel nun lösen, zumindest nach Ansicht Zanggers. Denn diese Gruppe bildete, seinen Thesen zufolge, die mysteriösen Seevölker oder waren zumindest ihre Alliierten. Ihren Siedlungsraum will Zangger in der Westtürkei ausgemacht haben. Das Gebiet ist von der bronzezeitlichen Archäologie bislang völlig unbeachtet geblieben. Die Mykener rückten also nicht etwa zu einer Strafaktion gegen ein paar Einäugige aus, sondern gegen die Zentrale einer ihnen feindlich gegenüberstehenden Weltmacht: das vermutlich luwische Troja.

Tatsächlich war die legendäre Stadt in der heutigen Türkei offenbar kein Solitär. In dreijähriger Arbeit durchforstete der türkische Archäologe Serdal Mutlu im Auftrag der Luwian Studies die Literatur. Am Ende konnte er 340 große bronzezeitliche Siedlungsplätze in der westlichen Türkei in einer Datenbank verzeichnen - mehr als die mykenischen, minoischen oder hethitischen zusammengenommen. Allerdings sind die wenigsten dieser Ort erforscht und praktisch kein Grabungsbericht ist in einer westlichen Sprache verfasst, wie Zangger bedauert. Aber die Folgerung ist eindeutig: "Die Region war zwischen 2000 und 1000 v. Chr. dicht besiedelt", sagt er. Die Böden dort waren fruchtbar, zahlreiche Minen enthielten Metalle wie Blei, Kupfer, Silber und Gold, die schon in prähistorischer Zeit abgebaut wurden. Flüsse, die weit ins Landesinnere reichten, erleichterten zudem den Warenverkehr. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Hochkultur wären also gegeben gewesen.

Texte in Sumerisch, Akkadisch, Hattisch, Huritisch, Hettisch, Palaisch - und in Luwisch

Dass das Gebiet von den Ausgräbern dennoch ausgeblendet wurde, schreibt der Geo-Archäologe der ideologischen Verblendung vieler Alterstums-Wissenschaftler zu. Als der britische Ausgräber und Knossos-Entdecker Arthur Evans (1851 - 1941) im Jahr 1920 seine Kreise auf der Karte mit dem Ziel zog, die Imperien der Bronzezeit in der Ägäis zu beschreiben, herrschte zwischen den zeitgenössischen Griechen und Türken erbitterter Krieg. "Dem Philhellenen Evans kam es unter diesen Umständen nicht in den Sinn, das Augenmerk der Forschung auf etwaige Kulturen außerhalb Europas zu lenken", so Zangger. Auf türkischem Boden durfte also keine westliche Hochkultur existiert haben - mancher vermeintliche Patriot wird sich heute noch schwer damit tun.

Die Archäologen mögen die Luwier lange übersehen haben, für Philologen und Sprachwissenschaftler gilt das keineswegs. So kamen bei der Ausgrabung der Hethiter-Hauptstadt Hattuša umfangreiche Archive an Tontafeln und -fragmenten zutage, gut 30 000 an der Zahl. Sie trugen Keilschrifttexte in mehreren, teils in der Kapitale gepflegten Sprachen, etwa Sumerisch, Akkadisch, Hattisch, Huritisch, Hethisch oder Palaisch - und schließlich auch Luwisch. Rund 200 Keilschrift-Fragmente sind dieser Sprache zuzuordnen, die daneben auch in Hieroglyphen verzeichnet wurde. Diese weisen gut 500 Symbole auf und wurden von Emil Forrer (1894 -1986) Anfang des 20. Jahrhunderts mit entschlüsselt. Der Schweizer Assyriologe hatte bereits 1920 die Vermutung angestellt, die Luwier seien ein "weitaus größeres Volk" gewesen als die Hethiter.

"Es ist unbekannt, wie die Leute in der Gegend in der Bronzezeit politisch organisiert waren."

Das musste auch damals schon als Entdeckung gelten, denn so groß das Volk auch gewesen sein mag, Spuren hat es kaum hinterlassen. So liegt es an den bildmächtigen Ägyptern, die Luwier zu beschreiben. Auf einem Relief an der Nordseite des Ramses-Grabmals in Medinet Habu im Tal der Könige, ist eine Schlachtenszene aus dem Seevölkersturm dargestellt. Ägyptische Soldaten, erkennbar an Pagenschnitt, Pfeil und Bogen, sowie dem Längsschild, massakrieren darauf Figuren mit einer Federkrone oder einer Art gehörntem Helm auf dem Kopf. Ihre Feinde, die Seevölker, respektive Luwier, trugen Waffenröcke, die ihre Knie frei ließen und mit Querstreifen besetzt waren, womöglich aus Leder. Bewaffnet waren sie mit Speer, Lanze und Schwert und zur Verteidigung trugen sie Rundschilder. Ihre Ruderschiffe zierten am Bug wie am Heck stilisierte Vogelköpfe. Den Sieg trug natürlich der Pharao davon. In einer Szene führen die ägyptischen Soldaten gegnerische Krieger ab, die mit ihren Federkronen wie Indianer aussehen.

Nach dem Seevölkersturm um 1200 v. Chr. ging die Kenntnis der Keilschrift in der Peripherie Mesopotamiens verloren. Luwische Hieroglyphen dagegen breiteten sich im Osten Kleinasiens und im Norden Syriens aus und bleiben dort bis etwa 600 v. Chr. nachweisbar, etwa in königlichen Inschriften. Die luwische Sprache existierte sogar noch mehr als 1000 Jahre danach weiter. Die Frage ist aber: Handelte es sich bei jenen, die Luwisch schrieben tatsächlich um "Luwier", hatte die Sprache mithin ein Volk? Oder anders formuliert: Definierte der Sprachgebrauch ein Verständnis des Luwisch-Seins, wie es das Deutsche, Russische oder Han-Chinesische im Geist der Nationalstaaten tun?

Dieser Schluss sei "anachronistisch" und werde der Zeit des zweiten vorchristlichen Jahrtausends nicht gerecht, meint etwa Jörg Klinger vom Institut für Altorientalistik der FU Berlin. "Wir wissen nicht, welches Idiom ein Töpferproduzent gesprochen hat, von einer Sprache auf eine einheitliche Kultur zu schließen ist irrig. So haben Historiker vor vielleicht 100 Jahren gedacht", wendet der Sprachforscher ein. Als ein Hethiter zum Beispiel habe jeder gegolten, der ein Untertan des hethitischen Königs gewesen sei - völlig ungeachtet seiner Sprache oder Religion.

Immerhin geben die Archive aus Hattuša ein Stück weit Auskunft über die politische Situation im Westen des Hethiter-Reichs. Sie dokumentieren dort etwa zwei Dutzend Kleinstaaten, die dennoch in kaum einer bronzezeitlichen Karte auftauchen. Die Menschen in diesen Gebieten waren im Lauf der Zeit teils Vasallen der Hethiter oder aber deren Gegner. Relativ bekannt ist etwa Arzawa, synonym für Luwiya, mit seiner Hauptstadt Apasa, dem Vorläufer des späteren Ephesus. Aus dem Gebrauch typischer persönlicher Namen lasse sich, so Zangger, schließen, dass in Arzawa Luwisch gesprochen wurde. Andere Kleinstaaten trugen die Namen Lukka, Kizuwatma oder Wilusa - letzteren setzen manche Forscher mit Troja gleich. Fühlte man sich dort ebenfalls als Luwier?

"Es ist unbekannt, wie die Leute in der Gegend in der Bronzezeit politisch organisiert waren", fasst Michael Galaty den Stand des Wissens zusammen. Antworten, so der Professor für mediterrane Archäologie an der Mississippi State University, würde am Ende nur die Archäologie liefern können, die nun am Zuge sei: "Mit einer ausreichenden Zahl an Ausgrabungen in der richtigen Tiefe dürfte es möglich sein herauszufinden, ob die Luwier ein Imperium und damit eine zivilisatorische Identität darstellten oder nicht."

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SZ vom 26.11.2016/odg
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