Süddeutsche Zeitung

Geschichte:Die ersten Indianer

Nordamerika wurde offenbar 2000 Jahre früher besiedelt als bisher angenommen. Kamen die Ureinwohner auf dem Seeweg?

Hubert Filser

Die Jäger, die sich im Morgengrauen auf den Weg machen, sind zunächst hinter Gänsen und Kormoranen her. Mit Wurfpfeilen, die an ihrer Spitze eine gebogene Steinklinge haben, wollen sie die Vögel betäuben. Wenn das nicht klappt, könnten sie mit einer Art Steinharpune in den flachen Ufergewässern fischen. Manchmal jagen sie sogar Finnwale. Das Risiko, gar keine Beute zu machen, ist gering: Am Strand liegen zahlreiche Muscheln, Schnecken und Krebse.

Eine nette Geschichte, könnte man sagen, die von Forschern um Jon Erlandson von der Universität Oregon Anfang März in der Fachzeitschrift Science (Bd. 331, S.1181, 2011) erzählt wird, denn eigentlich haben sie nur ein paar 12.000 Jahre alte Überreste von erlegten Tieren und fein bearbeitete Pfeilspitzen gefunden.

Spektakulär ist aber auf jeden Fall der Fundort dieser Dinge: Die Inseln Santa Rosa und San Miguel, die vor dem heutigen Santa Barbara in Kalifornien liegen, sind zehn Kilometer vom Festland entfernt. Das bedeutet, dass diese frühen Jäger bereits für das Meer taugliche Boote besessen haben müssen.

Der Fund stützt somit die sogenannte Küstentheorie der Besiedelung Amerikas. Ihre Verfechter behaupten, dass diese Jäger eigentlich Fischer und Seefahrer gewesen seien. Ihre Vorfahren seien einst aus den nordpazifischen Gewässern von Sibirien kommend eingewandert.

Übers Land oder übers Wasser?

Amerika ist der letzte Kontinent, den die Menschen besiedelt haben, doch noch immer ist unklar, wann genau und auf welchem Weg die amerikanischen Ureinwohner ihr Land in Besitz genommen haben. Kamen sie übers Land oder übers Wasser? Gar direkt aus Europa oder über die Inselwelt Ozeaniens?

Bislang lautet die gängige Annahme, dass die frühen Migranten über die Beringstraße ins Herz Amerikas vorstießen, also über die früher existierende Landbrücke zwischen dem Nordosten Asiens und dem Nordwesten Amerikas. Jäger der sogenannten Clovis-Kultur hätten demnach vor etwa 13.000 Jahren den Kontinent auf dem Landweg besiedelt. Zu erkennen sind ihre Siedlungen an den raffiniert gefertigten, blattförmigen Speerspitzen. Diese fand man in chronologisch passender Reihenfolge in Alaska, Mittelamerika und schließlich auch in Patagonien.

Doch in den vergangenen Jahren tauchten immer mehr Fundstellen in Südamerika auf, die deutlich älter als 13.000 Jahre sind, und nicht von den Clovis-Menschen stammen können. Mittlerweile kennen Archäologen sechs Stätten in Südamerika, sowohl nahe der Ost- als auch nahe der Westküste, die nichts mit der Clovis-Kultur zu tun haben, obwohl sie mindestens gleich alt oder älter sind. Monte Verde an der chilenischen Küste mit einem Alter von 14.700 Jahren ist so eine Fundstätte.

An einer Stelle mit dem hübschen Namen Buttermilk Creek in Texas haben Forscher um den Anthropologen Michael Waters von der Universität Texas unterhalb einer Clovis-Fundschicht nun weitere, deutlich ältere Feuersteinwerkzeuge entdeckt, wie sie im Fachmagazin Science vom heutigen Freitag berichten (Bd. 331, S. 1599, 2011).

Über mehrere 1000 Jahre lebten hier Paläo-Indianer am Oberlauf des lieblichen Bachs, der nicht weit entfernt in einer Quelle entspringt. Der Bach und seine Umgebung hatten den Menschen in der Steinzeit ideale Lebensbedingungen verschafft, sogar eine Abbaustelle für Feuerstein gab es. So hallten damals wohl immer wieder die Echos harter Schläge durchs Tal, wenn die Steinzeitmenschen die Gesteinsknollen bearbeiteten und technisch versiert immer wieder drehten, um möglichst scharfkantige Werkzeuge zu bekommen.

Deren Spuren gruben die Forscher mehr als 15.000 Jahre später auf einer sattgrünen Wiese aus. An zwei Stellen im Bachbett gingen sie mehrere Meter in die Tiefe. Sorgsam füllten die Forscher das Material in weiße Plastikeimer, siebten die Erde, um auch noch den feinsten Splitter zu finden.

Die Mühe lohnte: Mit Stolz vermeldet Waters, man habe 15.528 Artefakte entdeckt. Entscheidend sind aber vor allem 56 kunstvoll behauene Steinwerkzeuge, vorwiegend Klingen und Werkzeuge zum Schaben und Schneiden. Es handle sich um die "ältesten Artefakte Nordamerikas", sagt Waters. Sie sind 2000 Jahre älter und sehen vor allem anders aus als die bislang ältesten bekannten Werkzeuge der Clovis-Kultur. Dies bedeute, so Waters, dass wir "über die frühe Besiedelung Amerikas neu nachdenken müssen". Womöglich habe sich die Clovis-Kultur erst aus dieser älteren Kultur entwickelt. Dies würde auch erklären, warum sich außerhalb Amerikas keine Hinweise auf die Clovis-Kultur finden, nicht einmal in Nordostasien.

Dennoch zögern die Wissenschaftler derzeit, neue Großtheorien zu entwickeln. Jetzt geht es um Fakten.

Die Anthropologen erzählen von Fundschichten, Steinwerkzeugen und deren Bearbeitung, von Datierungsmethoden und Steinverformungen. Die einzige etwas spekulative Anmerkung bezieht sich auf die Art und Größe der Werkzeuge: Klein und leicht seien die Klingen und Faustkeile, so als hätten sich die Menschen einen Werkzeugsatz schaffen wollen, der sich für Leute mit hoher Mobilität eigne - eine Art Leatherman der Steinzeit.

Die wirklich großen Fragen lassen sich anhand solcher Funde nicht klären: So ist bei der Landtheorie nicht klar, wie die Siedler an den mächtigen Eispanzern Kanadas vorbeigekommen sein sollen, die jeglicher Inlandbesiedelung im Weg standen. Es könnte einen zumindest teilweise eisfreien Korridor entlang des Yukon und dann an der Ostseite der Rocky Mountains bis hinunter nach Montana gegeben haben, allerdings wohl erst vor ungefähr 13.000 Jahren. Man kann sich ausmalen, wie ein Treck verwegener Pioniere an gigantischen Eiswänden entlang durch matschige, gerade erst vom Eis befreite Landschaften nach Süden zog, ohne zu wissen, was sie dort erwartet.

Der einzige Beweis dafür ist allerdings, dass Menschen tatsächlich in den paradiesischen Regionen südlich des Eisschilds angekommen sind. Dort im Grasland müssen sie üppige Beute vorgefunden haben: Mammuts, Bisons, Wildpferde und eine Menge kleinerer Säugetiere und Nager.

Bei der Küstentheorie wiederum fehlen Lager und Siedlungen, die während der Migration entstanden sein müssten. Man möge ihm doch eine Fundstelle an der Küste zeigen, die mindestens 15.000 Jahre alt ist, sagt zum Beispiel der Archäologe David Meltzer von der Universität Dallas, dann wäre er ein "happy guy". Doch die schlechte Fundsituation lässt sich mit dem Meeresspiegel erklären, der seit damals um 100 Meter gestiegen ist.

Mit dem Ende der Eiszeit vor rund 11.500 Jahren schmolzen gewaltige Gletschermassen ab, etwaige Lager und Siedlungen der Küstenbewohner versanken in den Fluten des Pazifiks. Einige Archäologen suchen deshalb bereits in Taucheranzügen und mit Unterwasser-Technologien nach neuen Fundorten.In einem anderen Ansatz versuchen Linguisten, die Sprachentwicklung nachzuzeichnen. Nur drei übergreifende Sprachfamilien gibt es in den beiden Amerikas: Amerind, Na-Dené und Eskimo-Aleut. Daraus schließen manche Forscher, es habe auch drei unterschiedliche Wellen der Besiedelung gegeben.

Erste Genanalysen deuten bei den amerikanischen Indianern auf asiatische Wurzeln hin, und darauf, dass sie möglicherweise nicht von den ersten Einwanderern abstammen, sondern von einer zweiten oder dritten Welle. Weitere Knochenfunde könnten hier helfen, doch die sind rar. Der Archäologe Daniel Sandweiss schreibt, die einzige Möglichkeit, die Debatte wirklich zu entscheiden, sei, die Orte zu entdecken, "an denen sich die Körper befinden".

Einen kleinen Hoffnungsschimmer bietet ein Fund aus Alaska, über den Science Ende Februar berichtete (Bd. 331, S. 1058, 2011). In einem prähistorischen Jagdcamp entdeckten Forscher die verkohlten Überreste eines dreijährigen Kindes. Vor 11.500 Jahren haben offenbar die Bewohner die Knochen des Kindes zerkleinert und in der zentralen Feuerstelle ihres Hauses verbrannt, danach verließen sie den Ort, der heute "Fluss der aufgehenden Sonne" heißt.

Die Forscher um den Anthropologen Ben Potter von der Universität von Alaska sind schon glücklich, dass sie damit einen seltenen Einblick ins Alltagsleben der Paläo-Indianer bekommen haben. Das runde Haus, die Spuren von Pfosten, die Wände und Dach gestützt haben könnten, die Feuerstelle in der Mitte der Hütte, lassen erahnen, wie das Leben damals aussah.

Der Boden lag fast einen halben Meter tiefer als die Umgebung, die Sippe hatte ihr Haus tief in den Boden gegraben. Die Forscher sprechen von einer Art Sommerresidenz, also nicht mehr von einem flüchtigen Camp für ein paar Nächte. Im verkohlten Holz entdeckten sie schließlich zwei kleine Stückchen Ocker - ein Hinweis darauf, dass das Kind zeremoniell begraben wurde. Aus dieser Zeit sind weltweit nur zwei andere Feuerbestattungen bekannt, eine weitere in Alaska und eine in Sibirien. Ben Potter hält den Fund für einzigartig.

Spätestens zu dieser Zeit nahmen die Menschen auch den Landweg nach Süden, die Gletscher gaben das Land frei. Gleichzeitig versank die Brücke zwischen den Kontinenten, denn der Meeresspiegel hatte zu steigen begonnen, am Ende lag er 100 Meter höher. Die Wissenschaftler wollen nun das Erbgut des Kindes untersuchen und mit dem von anderen sterblichen Überresten aus südlicheren Regionen Amerikas vergleichen, um so die möglichen Wanderrouten zu bestimmen. Auch das Erbgut eines 13.000 Jahre alten Knochens aus Santa Rosa vor der Küste Kaliforniens könnten die Genetiker dabei auswerten. Dann wird sich zeigen, ob die allerersten Amerikaner über die Küste oder das Inland kamen.

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Quelle:
SZ vom 25.03.2011/mcs
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