Nachruf auf den Hirnforscher Gerhard Roth:Der riskante Denker

Lesezeit: 2 Min.

Gerhard Roth (15. August 1942 - 25. April 2023) studierte zunächst Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie, bevor er sich der Biologie zuwandte. (Foto: imago stock&people/imago stock&people)

Ohne ihn wäre die deutsche Geisteslandschaft um wichtige Diskussionen ärmer. Mit Gerhard Roth ist ein streitbarer Hirnforscher und Philosoph gestorben.

Von Christian Weber

"Etwas Neues lernen, ist ein Risiko", hat Gerhard Roth einmal im TV-Regionalmagazin "Buten und Binnen" gesagt. In der vergangenen Woche ist der vielleicht bekannteste Hirnforscher Deutschlands im Alter von 80 Jahren gestorben, wie erst jetzt bekannt wurde. Er war in der Tat ein riskanter, vielleicht auch ein radikaler Denker, weil er mit zuvor in Deutschland ungewohnter Radikalität auf die biologische Basis des menschlichen Geistes hinwies.

Dabei war Gerhard Roth schon von seiner Ausbildung her kein kruder Positivist, ohne Sinn für die Diskussionen außerhalb des Labors und in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten. Vielmehr absolvierte Roth in Münster und Rom zuerst ein Studium der Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie, das er mit einer Dissertation zu dem marxistischen Denker Antonio Gramsci abschloss. Erst danach studierte er Biologie unter anderem in Berkeley und promovierte 1974 in Münster zu einem Thema der Zoologie.

Gibt es ein Ich? Plötzlich wurden in Talkshows und Feuilletons die ganz großen Fragen diskutiert

Bereits von 1976 an lehrte Roth als Professor für Verhaltensphysiologie an der Universität Bremen, wurde dort später Direktor des damaligen Institutes für Hirnforschung und Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs. Als sehr erfolgreicher Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes von 2003 bis 2011 erinnerte er sich vielleicht ein wenig an seine Beschäftigung mit Gramsci, der sich für die intellektuelle Bildung des italienischen Proletariats eingesetzt hatte. Unter Roths Führung verdoppelte sich die Zahl der Stipendiaten der elitären Stiftung, besonders gefördert wurden Studenten und Studentinnen aus nicht-akademischen Milieus und aus Familien mit Migrationshintergrund.

Und auch für die Öffentlichkeit war sich der Forscher nie zu fein, keinem Gefecht ging er aus dem Weg. Spätestens mit dem 1994 veröffentlichten Buch "Das Gehirn und seine Wirklichkeit" sowie in zahlreichen weiteren Schriften, Vorträgen und Interviews meldete er den Anspruch der Neurowissenschaft an, bei der Deutung des Menschen und seiner Taten mitzureden. Wenn bioelektrisches Geschehen im Neuronengeflecht zu Entscheidungen führt, wo bleibt dann ein Platz für die Willensfreiheit? Und wenn es keine Willensfreiheit gibt, wie soll dann ein Mensch, etwa bei einem Gewaltdelikt, schuldig werden können?

Neuroforscher wie Gerhard Roth, unterstützt von den damals aufkommenden bunten Bildern aus den Hirnscannern, sorgten dafür, dass über Jahre in den Talkshows und Feuilletons die ganz großen Fragen diskutiert wurden: Was ist das Ich? Gibt es das überhaupt? Wie entscheiden Menschen? Gibt es das Böse? Plötzlich schien die Physiologie des Hirns die Grundlage zu bilden für Philosophie, Theologie, Moral, Ökonomie. Manche der möglichen Antworten kränken das menschliche Selbstbild.

Lernen kann eben weh tun, das ist das Risiko. Gerhard Roth hat es nie gescheut.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusTechnik
:Kann künstliche Intelligenz Gedanken lesen?

Immer genauer können Forscher Bilder oder Text aus Hirnscans rekonstruieren. Das sagt nicht nur etwas über die faszinierenden Fähigkeiten der KI aus - sondern auch über die des menschlichen Gehirns.

Von Nicolas Killian

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: