Mit einer Stärke von 2,4 erzitterte im oberbayerischen Poing am 9. September die Erde. Eigentlich ist das nicht der Rede wert, wäre dort nicht eine Geothermieanlage in der Nähe. Ein lauter Knall ertönte, rund ein Dutzend Notrufe gingen bei der Polizei ein. Anwohner entdeckten Risse in ihren Häusern. Der Betreiber schaltete die Anlage ab, nicht als Schuldeingeständnis, sondern um den Sorgen der Bürger Rechnung zu tragen. Denn die sind groß. Ähnlich wie im pfälzischen Landau, wo die Erde 2009 bebte oder im baden-württembergischen Leonberg, wo 2011 mehr als 20 Häuser absackten. In beiden Städten gab es in der Nähe Geothermie-Bohrungen, an allen Orten wehren sich nun Bürger gegen diese Energiequelle.
Die Pannen und Widerstände stehen in Kontrast zum Potenzial, das in der Erdwärme steckt: Die sogenannte hydrothermale tiefe Geothermie könnte in Deutschland 29 Prozent des Wärmebedarfes decken, die oberflächennahe Geothermie weitere 28 Prozent. Die Geothermie könnte ein Eckpfeiler der Energiewende sein, vielleicht sogar eine Schlüsseltechnologie, um die Klimaschutzziele zu erreichen.
Die Erschütterungen entsprachen denen eines Lkw auf einer holprigen Straße
Im öffentlichen Ansehen fristet sie aber ein Nischendasein. Dabei ist Erdwärme unter den erneuerbaren Energien der heimliche Star. Nach menschlichem Ermessen ist Erdwärme unerschöpflich. In Mitteleuropa nimmt die Temperatur im Erdboden um drei Grad Celsius pro 100 Meter Tiefe zu. 1000 Grad heiße Regionen lassen sich anbohren. Die Förderanlagen benötigen keine riesigen Flächen wie Windparks oder Solarfelder. Mit den Anlagen lässt sich Fernwärme erzeugen; manche Anlagen produzieren auch Strom. Der Prozess ist unabhängig von Wind und Sonne, ein CO₂-Ausstoß nicht vorhanden. Insbesondere für die Versorgung von Ballungsräumen ist die Wärme aus der Erde ideal. In München entsteht derzeit eine Geothermieanlage mitten im Flaucher, einem innerstädtischen Naherholungsgebiet.
Doch die Sorgen der Bevölkerung vor dem Bohren sind groß. Dabei sind negative Vorkommnisse die absolute Ausnahme. Ein Team von Wissenschaftlern um Inga Moeck vom Leibniz-Institut für Angewandte Geophysik hat die Ereignisse in Poing untersucht und relativiert die potenzielle Gefahr. Die Indizien sprächen zwar für einen Zusammenhang zwischen dem Erdbeben und der Geothermie, aber das sei kein Grund für Besorgnis. Die Energie eines Erdbebens wird als Wellen freigesetzt, die der Mensch an der Erdoberfläche als Erschütterungen wahrnimmt. Die Wellenbewegung in Poing war mit 1,6 Millimetern pro Sekunde äußerst gering. Ein Lkw auf einer holprigen Straße verursacht etwa die gleichen Schwingungen. Eine DIN-Norm für Erschütterungen im Bauwesen legt den Grenzwert bei 5,0 Millimetern pro Sekunde fest - weit höher als die Mikrobeben im Umfeld geothermischer Anlagen.
Geologen unterscheiden prinzipiell zwischen oberflächennaher und tiefer Geothermie. Oberflächennahe Geothermie schöpft Wärme aus bis zu 400 Metern Tiefe ab und ist insbesondere für Privathaushalte interessant. 350 000 solcher Anlagen sind in Deutschland bereits in Betrieb. Durch senkrechte Rohre fließt eine Wärmeträgerflüssigkeit nach unten, welche die Wärme in der Tiefe abschöpft. Über einen Wärmetauscher im Keller gelangt die Wärme in den hausinternen Kreislauf. Je nach Größe der Anlage können mit dieser Methode auch ganze Bürokomplexe beheizt werden. Tiefe Geothermie nutzt Thermalwasser aus bis zu fünf Kilometern Tiefe - so lassen sich ganze Stadtviertel mit Energie versorgen. Hier schöpft ein Wärmetauscher die Wärme des geförderten Wassers ab, bevor es wieder in den Untergrund injiziert wird.
Drei Gebiete in Deutschland sind für tiefe Geothermieanlagen besonders geeignet: der Oberrheingraben, das Norddeutsche Becken und das Süddeutsche Molassebecken. In Letzterem liegt die Metropolregion München. 18 der 33 bundesweiten tiefen geothermischen Anlagen stehen im Großraum der Landeshauptstadt. Vereinfacht gesagt liegt mehrere Kilometer unter dem Stadtgebiet ein großes Heißwasservorkommen.
Im Münchner Vorort Grünwald sind bereits 1900 Wohneinheiten an die geothermische Wärmeversorgung angeschlossen. Mit einer Temperatur von 127 Grad Celsius kommt das Wasser dort aus der Tiefe. Die Stadtwerke München haben ehrgeizige Pläne. Bis 2040 soll das gesamte Fernwärmenetz auf erneuerbare Energie umgestellt werden; einen Großteil davon soll die Geothermie stemmen.