Süddeutsche Zeitung

Biochemie:Neue Seiten im Buch des Lebens

Forscher und Forscherinnen haben das bislang vollständigste Genom des Menschen vorgestellt. Es zeigt sich, dass vermeintlicher Erbgutschrott viele biologische Prozesse im Köper beeinflusst.

Kommentar von Hanno Charisius

Beim Marathon heißt es, die letzten Kilometer vorm Ziel seien die härtesten. Das könnte man auch von der Entzifferung des menschlichen Genoms sagen. Zehn Jahre lang rackerte ein weltweit verteilter Forschertrupp, um 2001 die erste Version eines menschlichen Genoms zu präsentieren. Vollständig war das nicht, es erfasste nur gut 83 Prozent der insgesamt mehr als drei Milliarden DNA-Bausteine. Zwei Jahre später meldete das Humangenomprojekt Vollzug. Das waren aber noch immer nur 92 Prozent allen Erbguts, das in einer Zelle schwimmt, Baustein für Baustein sequenziert. Bahnbrechend sicher, aber zurückblickend war das der leichtere Teil.

Mehr als zwei Jahrzehnte nach dem ersten Entwurf berichtet nun ein Forscherteam im Fachjournal Science, dass nun endlich auch der Rest des Humangenoms durchbuchstabiert sei. Das klappte nur, weil die Sequenziertechnologie, mit der sich der genetische Code auslesen lässt, mittlerweile auch die schwer entzifferbaren Bereiche der Chromosomen meistern kann - Abschnitte, die sich aus fortwährend wiederholenden Bausteinmustern zusammensetzen, die lange Zeit als genetischer Müll galten.

Inzwischen ist klar, dass diese Bereiche nicht bloß Lagerstätten für Erbgutschrott sind, der sich im Laufe der Evolution angesammelt hat. Sie sind vielmehr elementar für die Funktion der Chromosomen und damit für sämtliche biologischen Prozesse, die dazu führen, dass aus einer befruchteten Eizelle ein vollständiger Mensch erwachsen kann, der sein eigenes Erbgut dechiffriert. In den neu sequenzierten Abschnitten vermuten die Forscher zudem 1956 bislang unbekannte Gene, die meisten davon beeinflussen das biologische Programm der Zellen, 99 könnten sogar Bauanweisungen für bislang unbekannte Proteine enthalten.

So beeindruckend diese neueste Version vom Buch des Lebens ist, die viele Fehler korrigiert - es wird nicht die letzte Ausgabe bleiben. Auch sie ist noch immer nicht vollständig. Die meisten Zellen enthalten 46 Chromosomen, das Team konnte bislang jedoch nur 23 auslesen, auch fehlt noch das Y-Chromosom, auf dem die männlichen Erbanlagen liegen. Das nun vollständigste Genom enthält zudem nur die Gene eines einzelnen Menschen. Es wird als Referenz dienen, um genetische Unterschiede zu identifizieren, die der Diversität der Menschheit, aber auch der Entstehung vieler Krankheiten zugrunde liegen. Aber im Ziel ist die Wissenschaft damit noch lange nicht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5559086
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.