Nirgendwo kann Wissenschaft so politisch und patriotisch sein wie in Israel. Jeder Spatenstich der Archäologen wird dort auch danach beäugt, ob er den Gründungsmythos des Landes bestätigt. Dieser besagt, dass alle Juden letztlich von den Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob abstammen und sich in den Jahrhunderten nach dem Untergang des Reiches Juda vor ungefähr 2500 Jahren über Ägypten, Babylonien, Kleinasien und den Mittelmeerraum über die Welt verstreuten und seitdem in der Diaspora leben.
Deshalb wird die israelische Öffentlichkeit wahrscheinlich mit großer Aufmerksamkeit auf eine Studie reagieren, die ein Forscherteam um den Genetiker Harry Ostrer von der New York University School of Medicine in der Juni-Ausgabe der Fachzeitschrift American Journal of Human Genetics (online) veröffentlicht: Demnach deuten Genanalysen darauf hin, dass alle jüdischen Menschen tatsächlich relativ eng miteinander verwandt sind - selbst dann, wenn sie seit langer Zeit getrennt auf unterschiedlichen Kontinenten leben und sich mit den dort lebenden Ethnien vermischt haben.
Dieser naturwissenschaftliche Beleg ist auch deshalb von Bedeutung, weil kritische Wissenschaftler in den vergangenen Jahren immer wieder die klassische Interpretation der Diaspora in Frage gestellt haben oder sie als bloßes kulturelles Konstrukt hingestellt hatten.
Kontroversen um "Die Erfindung des jüdischen Volkes"
Zuletzt löste der Neuhistoriker Shlomo Sand von der Universität Tel Aviv heftige Kontroversen aus: In seinem Buch "Die Erfindung des jüdischen Volkes", das vor kurzem auch in Deutschland erschienen ist, behauptet er, dass es das Exil nach der Zerstörung des Ersten und Zweiten Tempels in Judäa gar nicht gegeben hätte. Die Idee eines jüdischen Volkes mit gemeinsamen Wurzeln sei eine Erfindung deutsch-jüdischer Historiker des 19.Jahrhunderts.
Tatsächlich hätten sich nicht die Nachfahren der jüdischen Exilanten und Vertriebenen über die Welt ausgebreitet, sondern nur deren Religion als Folge jüdischer Missionstätigkeit in der Antike und im Mittelalter. So seien etwa die Jiddisch sprechenden Juden in Osteuropa die Nachfahren von bekehrten Chasaren, einem Turkvolk aus Zentralasien. Abraham sei so wenig der Stammvater der Juden wie Hermann der Cheruskerfürst der Urahn der Deutschen. Tatsächlich seien am ehesten noch die heutigen Palästinenser die biologischen Nachfahren der antiken Juden. Allerdings erfuhr Sand bereits viel Kritik aus der Zunft der Althistoriker.
Nun widersprechen auch die neuen Genanalysen Sands Thesen mit großer Deutlichkeit. Zwar hatte es schon in den vergangenen Jahren verschiedene genetische Hinweise auf die relativ enge Verwandtschaft unter Juden gegeben, doch die neue Studie zeichnet sich dadurch aus, dass sehr weit voneinander entfernte Gemeinschaften untersucht wurden.
Die Wissenschaftler sammelten nämlich Genmaterial von 237 Juden aus New York und Seattle in den USA, aus Athen, Rom und Israel. Dabei wurden Angehörige der drei großen Diaspora-Gemeinschaften erfasst: der askenasischen Juden Osteuropas, der Sepharden aus Italien, Griechenland und der Türkei sowie der sogenannten Mizrachim aus Iran, dem Irak und Syrien. Ihre Proben wurden mit solchen von 418 nicht-jüdischen Personen verglichen.
Die Genanalyse ergab, dass Aschkenasen, Sepharden und Mizrachim tatsächlich so viele gemeinsame genetische Merkmale aufweisen, dass man sie als eigenständige Gruppe von der übrigen Weltbevölkerung unterscheiden kann. Zugleich konnten die Forscher bei allen drei Diaspora-Gruppen Ursprünge im Nahen Osten nachweisen sowie eine Vermischung mit der Bevölkerung der jeweiligen Umgebung. "Das erklärt, wieso so viele europäische und syrische Juden blaue Augen und blondes Haar haben", sagt Ostrer.
Die Studie zeigt zudem, wie exakt sich Geschichte aus dem Genom ablesen lässt: So belegt die Analyse, dass sich die beiden größten Gruppen - die Juden Europas und des Nahen Ostens - vor ungefähr 2500 Jahren getrennt haben müssen.
Bei den Sepharden konnten die Forscher eine nordafrikanische Komponente im Genom nachweisen, die vermutlich auf dem genetischen Einfluss der Mauren beruht, die im Jahr 711 vom heutigen Marokko aus die iberische Halbinsel eroberten und dort bis 1492 blieben.
Ein weiterer Marker im askenasischen Erbgut bestätigt eine bekannte demographische Delle, bei der die Zahl der europäischen Juden Anfang des 15. Jahrhunderts auf 50.000 gesunken und bis zum 19. Jahrhundert wieder auf fünf Millionen gewachsen war. "Die Studie stützt also die These, dass alle Juden durch eine gemeinsame genetische Geschichte verbunden sind", resümiert Ostrer.
Die neuen Erkenntnisse sind nicht nur von historischem Interesse, sondern dienen auch als handfestes politisches Argument. Denn unter anderem aus der Idee der gemeinsamen Abstammung leiten die Nachfahren der vertriebenen Juden das Recht ab, den Staat Israel auf dem Gebiet des ehemaligen Heiligen Landes zu gründen.
Auf ihr beruht letztlich auch das sogenannte "Rückkehrgesetz", das jeder als Jude anerkannten Person bei der Einreise sofort die israelische Staatsbürgerschaft garantiert.
Die New Yorker Genetiker verweisen zudem ganz pragmatisch auf den medizinischen Nutzen ihrer Forschung. "Die Studie liefert uns Informationen, von der nicht nur Menschen jüdischer Abstammung profitieren können, sondern alle", sagt Co-Autor Edward Burns. "Indem sie ein umfassendes genetisches Profil verschiedener jüdischer Gruppen liefert, hilft sie uns beim Verständnis der Genetik von Herzerkrankungen, Krebs, Diabetes und anderer Volkskrankheiten."