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Genetik:Mendel in der Krise

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Mit dem Ackerkraut hat der Genetiker nicht gerechnet - und seine Nachfolger auch nicht. Die Pflanze kann offenbar mysteriöserweise Gene weitergeben, die zwar ihre Vorfahren besaßen, sie selbst aber nicht.

von Klaus Koch

Dort, wo das Überleben schwierig ist, fühlt sich die Ackerschmalwand wohl. Das nur wenige Zentimeter große Pflänzchen wächst als Pionier zum Beispiel auf Schuttplätzen und an Wegrändern.

Auch wegen dieser Robustheit ist Arabidopsis, wie das gelblich blühende Kraut auf lateinisch heißt, in den letzten Jahrzehnten zum Lieblingsobjekt der Pflanzenbiologen geworden - und beschert ihnen immer wieder Überraschungen.

Die bislang größte hat jetzt eine Gruppe um Susan Lolle und Robert Pruitt von der Purdue-Universität in West Lafayette, USA, erlebt (1). Wenn sich ihr Bericht bestätigt, dann erbt die Ackerschmalwand nicht nur die Gene ihrer Eltern, sondern verfügt darüber hinaus noch über ein "Notfall-Archiv" mit Erbinformationen ihrer Urgroßeltern.

Offenbar können Pflanzen, denen es schlecht geht, statt der eigenen Gene die der Vorfahren an den Nachwuchs weiterreichen. "Wenn sich das bestätigt, wäre der Begriff Überraschung noch untertrieben", sagt Detlef Weigel vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen, der die Arbeit für die Fachzeitschrift Nature begutachtet hat.

Tatsächlich kennen Biologen bislang nur zwei Methoden, wie Lebewesen ihr Erbgut verändern, das sie an Nachkommen weitergeben.

Die eine ist Sexualität: Das von den Eltern geerbte Genmaterial wird neu gemischt auf Samen- oder Eizellen aufgeteilt und dann bei der Befruchtung mit dem Erbgut eines Partners neu kombiniert. Die andere sind Mutationen: Dabei wird das Erbgut per Zufall verändert.

Die Gruppe um Pruitt kann diese konventionellen Methoden aber als Erklärung für ihre Beobachtung ausschließen. Die Forscher haben gesunde Arabidopsis-Pflanzen mit einem Stamm gekreuzt, der einen äußerlich sichtbaren Gendefekt aufwies: beispielsweise miteinander verwachsene Blütenblätter.

Wunderheilung

Kranke Nachkommen ließen die Wissenschaftler sich selbst befruchten, so dass nach den Regeln der Genetik ausschließlich Pflanzen mit Gendefekt hätten entstehen müssen.

Doch bei fast jeder zehnten Pflanze hatte eine Art Wunderheilung stattgefunden: sie war völlig gesund. Ein Blick in das Erbgut zeigte, dass der Gendefekt der Eltern tatsächlich verschwunden war und die Pflanzen stattdessen das intakte Gen ihrer gesunden Urgroßeltern besaßen.

"Es ist extrem unwahrscheinlich, dass zufällige Mutationen diese Reparatur erklären", sagt Weigel. Allerdings fehlt den Forschern bislang eine Erklärung, wie und wo die Pflanzen die Erinnerung an die Gene der Urgroßeltern aufbewahrt haben.

Die Suche nach versteckten Erbgutresten blieb bisher erfolglos. Pruitt spekuliert, dass es ein Archiv mit RNA-Abschriften geben könnte.

Freilich stößt das Gengedächtnis in Fachkreisen noch auf erhebliche Skepsis, schildert Weigel. "Das will man zuerst nicht glauben und sucht nach Fehlern", sagt er.

Doch die Autoren hätten alle seine Fragen beantworten können, so dass er keinen Grund sah, den Angriff gegen die bestehende Lehrmeinung abzublocken.

"Die Arbeit ist ein Beispiel dafür, das neue Ideen in der Wissenschaft eine Chance bekommen", sagt Weigel. Wenn sie sich bestätigt, müsse man davon ausgehen, dass auch Tiere solch ein Archiv besitzen könnten.

(1) Nature, Bd. 434, S. 506, 2005

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Quelle:
SZ vom 24.3.2005
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