Annemarie arbeitet als Erzieherin und will gerne als Prinzessin wiedergeboren werden. Männer, die nerven, mag sie nicht. Wer ihre Aufmerksamkeit erobern will, der sollte es verstehen, heiß zu tanzen. Und mit ihrem Nacktfoto auf der ersten Seite der Bild-Zeitung, so ist dem Fragebogen zu entnehmen, überrascht Annemarie ihren Großvater.
Für diesen Text hier ist aber eine andere Frage relevant, die den Nackigen von nebenan in der berühmtesten Rubrik der Bild-Zeitung regelmäßig gestellt wird: Wie denn Sex ohne Liebe für sie wäre? "Kann auch schön sein", antwortet Annemarie und bricht scheu eine Lanze für die Wollust - dieses mächtige Gefühl, um das Philosophen, Moralapostel, Wissenschaftler und der ganze Rest der Menschheit seit Ewigkeiten so ein Gewese veranstalten.
Was begründet das ganze aufgeregte Gebrüll rund um die Wollust? Ihre Konsequenzen und Bedeutung: Die sexuelle Begierde erfüllt die wichtigste Funktion, die ein Gefühl ausüben kann. Sie sichert ganz unmittelbar die Arterhaltung des Menschen, indem sie für Nachwuchs sorgt. Um das einzusehen, musste nicht einmal die Disziplin der Evolutionspsychologie erfunden werden.
Doch eine so essentielle Aufgabe erfordert einen starken Antrieb, und kaum ein Gefühl aus dem Köcher der Emotionen überwältigt den Menschen so sehr wie die Wollust - genau das ist das Problem. Das sexuelle Verlangen und die Wollust fegen ungestüm und unbeherrscht die Vernunft zur Seite und stürzen den Menschen zurück ins Reich der Tiere. Der Körper übernimmt das Regiment und drängt den Geist zurück. "Der Orgasmus unterbindet das Denken", schreibt der britische Philosoph Simon Blackburn in seinem Buch "Wollust. Die schönste Todsünde".
Durchsetzt von Ekel und Scham
In die Wollust mischt sich ein ganzer Strauß anderer Gefühle, denen der Menschen entsetzt oder entzückt und immer hilflos gegenübersteht. Sie ist durchsetzt von Ekel angesichts eigener und fremder Körperflüssigkeiten, von Scham angesichts des Kontrollverlusts samt seltsamen Spasmen und Verrenkungen. Zugleich verspricht die Wollust die höchste Ekstase, die der Mensch zu erreichen imstande ist. Die Natur degradiert ihn zum Trottel und entschädigt durch große Lust.
Die Begierde ist der dunkle Partner der Liebe, der nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist. Spaziert ein Pärchen innig umarmt durch einen Park, dann lächeln die meisten Menschen. "Liebe erhält den Applaus der ganzen Welt", sagt Simon Blackburn. Über Paare, die im Gebüsch beim Geschlechtsakt erwischt werden, rümpft die ganze Welt die Nase.
Die Wollust verdrängt die restliche Welt, legt die Vernunft lahm und lässt keinen Platz für das Gebet. Stets sei es deshalb ein Anliegen der Menschen gewesen, die Wollust zu kontrollieren und zurückzudrängen, schreibt Simon Blackburn. Der griechische Philosoph Platon forderte die Einschränkung des Gefühls. Die Wollust sei schändlich, und den Vergnügungen der Sexualität zu erliegen sei deshalb eigentlich immer eine Art von Versagen.
Plinius der Ältere erhob in diesem Zuge den Elefanten zum Symbol der Tugendhaftigkeit. Die Dickhäuter, so fabulierte der Römer, kopulierten höchstens alle zwei Jahre, nur im Verborgenen und nie zu ihrem Vergnügen. Mann und Frau sollten den edlen Tieren nacheifern, wünschte sich Plinius. Auch Seneca forderte, der Wollust dürfe nur zur Zeugung nachgegeben werden. Der von sexuellen Schuldgefühlen geplagte Kirchenvater Augustinus - er hatte Frau und Kind sitzenlassen - verhalf der Idee in der abendländischen Kultur zum Durchbruch.
"Die Assoziation von Wollust mit Unreinheit und Ekel, mit den Listen des Teufels, mit Finsternis, Tier, Körper und schließlich Tod, Verdammnis und Hölle war fest verankert und allgegenwärtig", schreibt Blackburn. Wortgewaltige Männer priesen den sexuellen Verzicht als Ideal und Triumph über das animalische Wesen - in hysterischem Übereifer entmannten sich sogar besonders fromme Männer mancher sexuell-asketischen christlichen Sekten.
Der Wollust nachzugeben erschien ihnen als schlimmeres Übel: Es drohten Schwachsinn, Glatzenbildung, Schwund des Rückenmarks und allerlei andere Grässlichkeiten. Die Hysterie um die schrecklichen Auswirkungen der Wollust steigerten sich bis hin zu den Masturbations-Verhinderungs-Maschinen des 19. Jahrhunderts.
In der Gegenwart kontrollieren nun Wissenschaftler die Wollust auf ganz andere Art: Sie zerren das lichtscheue Gefühl aus der Dunkelheit und zerlegen die Wollust in ihre biochemischen Einzelteile. Meistens beginnen sie bei der Fruchtfliege, deren sexueller Tanz laut einer aktuellen Studie von nur 1500 Neuronen gesteuert wird. Beinahe täglich berichten Wissenschaftler über Hormone, Hirnareale und andere körperliche Korrelate der Wollust.
Mangel an Wollust gilt jetzt als krank
In einem Buch des amerikanischen Molekularbiologen John Medina ist der moderne Blick auf die Wollust beispielhaft zusammengefasst: Sexuelles Verlangen "lässt sich am besten als sichtbare Eigenschaft von wenigstens vier miteinander verknüpften physiologischen Systemen, mindestens elf verschiedenen Gehirnregionen, mehr als 30 unterschiedlichen biochemischen Mechanismen und buchstäblich Hunderten spezifischen Genen verstehen, die an diesen diversen Prozessen beteiligt sind". Aha, und das alles fegt die Vernunft fort?
"Wir definieren sexuelles Verlangen als einen Zustand, in dem ein Individuum motiviert ist, Gelegenheiten zur sexuellen Aktivität zu suchen", schreiben Wissenschaftler aus Kalifornien in einer Studie in der Fachzeitschrift Emotion. Klingt auch fad.
Hat die Forschung der Wollust die Wucht ausgetrieben, in dem sie vom Dopamin-Spiegel beim Koitus berichtet, Paare im Kernspintomographen kopulieren lässt oder die Ejakulationsweite masturbierender Männer vermisst? Ach was, abseits der Labors wird noch diskutiert, ob Sex ohne Liebe sein darf und ob das pornomäßige Outfit weiblicher Popstars die falschen Menschen zu wollüstigen Gedanken verführt. Neu ist hingegen eine andere Art der Kontrolle dieses Gefühls: Nun gilt ein Mangel an Wollust als krank.