Die gute Nachricht lautet, dass die Suizidrate vor Weihnachten entgegen einer weit verbreiteten Annahme nicht steigt. Laut Statistik ist in dieser Hinsicht der Mai der gefährlichste Monat. Vielleicht, weil die Schwärze im eigenen Herzen besonders schmerzt, wenn Andere in Frühlingsgefühlen baden. In der Adventszeit hingegen leiden die meisten Menschen unter gemischten Gefühlen, so wie sonst nur selten im Jahr. Da fühlt sich auch der Traurige der Gemeinschaft näher.
Reine Vorfreude auf das Fest haben allerdings nur die kleinen Kinder, allenfalls getrübt von der leisen Befürchtung, dass der Weihnachtsmann nicht so ganz kapiert haben könnte, welche Version der bestellten Playstation er liefern soll.
Erwachsene hingegen erleben häufig einen extremen Gefühls-Mix: Wenn sie die Kerzen anzünden und in den Lebkuchen beißen, erinnern sie sich voller Nostalgie und Sehnsucht an die Weihnacht ihrer Kindheit, sie hoffen darauf, dass es diesmal keinen Krach in der Familie geben und die erwarteten Gefühle rechtzeitig eintreffen werden - Geborgenheit, Harmonie, vielleicht sogar ein bisschen Erhabenheit bei der Weihnachtsmesse.
Sie ahnen zugleich, dass sie enttäuscht sein könnten von uninspirierten Geschenken, gelangweilt von Gesprächen mit entfernten und entfremdeten Verwandten, angeekelt vom süßlichen Weihnachtsgesumme in den Einkaufszonen.
Unter den Erwachsenen bekundet jeder Vierte, die Feiertage setzten ihn massiv unter Druck oder Stress, wie das Nürnberger Marktforschungsinstitut GfK in der vergangenen Saison repräsentativ ermittelte. Jeder Sechste berichtete von dicker Luft unterm Tannenbaum. Viele werden dem US-Autor Ambrose Bierce zustimmen, der Weihnachten wie folgt definierte: "Festtag der Völlerei, der Trunksucht, klebrigen Gefühle, der Entgegennahme von Geschenken und öffentlichen Langeweile mit häuslichem Frieden geweiht." Verständlich, dass jeder Fünfte erklärte, dass er Weihnachten am liebsten ganz abschaffen würde.
Sie tun es dann doch nicht, vermutlich, weil sie die Aussichtslosigkeit des Unterfangens einsehen. Die genervten Anwohner des Münchener Oktoberfestes versuchen ja auch nicht ernsthaft, Bierzelte durch Teesalons zu ersetzen. Naturgewalten wie das Weihnachtsfest kann man nur erdulden.
Die vor Jahrhunderten nach Sibirien ausgewanderten deutschen Bauern begehen Weihnachten ebenso unverdrossen wie die lutheranischen Auswanderer im Dörfchen Lobethal in Südaustralien. Mitten im Sommer der Südhalbkugel zelebrieren sie ihr "Festival of Lights", das jährlich 250.000 Besucher anzieht. Man hat sich natürlich angepasst: In dem australischen Weihnachtslied "Six White Boomers" ziehen halt sechs Kängurus an den Schlitten des Weihnachtsmanns.
Die Symbole der Weihnachtszeit sind so resistent und wandlungsfähig wie unangenehme Viren; Weihnachtsbäume verbreiten sich invasiv wie jene weißen Stapelstühle aus Weichplastik, die mittlerweile auf allen Sonnenterrassen der Welt stehen. Mit solchen Phänomenen muss man leben. Es geht ums Coping.
Wie tief sich weihnachtliche Erwartungen in den Gehirnen verankert haben, zeigt ein Experiment des Psychologen Harald Merckelbach von der Maastricht University. Er spielte 44 Probanden ein per Zufallsgenerator erzeugtes, sogenanntes "weißes Rauschen" vor, bei dem sich die akustische Energie gleichmäßig über alle Frequenzen verteilte - sinnlose Information also. Dann bat er die Versuchsteilnehmer, einen Knopf zu drücken, sobald sie in dem Rauschen Bing Crosbys "White Christmas" hörten. Tatsächlich bildeten sich 32 Prozent ein, sie hätten das Weihnachtslied vernommen.
Wer die Literatur studiert, wundert sich nicht mehr, dass Besucher von Weihnachtsmärkten Glühwein trinken und an Duftkerzen riechen. Schon 2007 wurde belegt, dass sich das Schnupperverhalten von Schimpansen saisonal verändert. Mittlerweile zeigen dies auch mehrere Humanstudien.
Zuletzt belegte ein Team um Thomas Hummel von der "Smell & Taste Clinic" der Universität Dresden, dass Menschen den Geruch von Zimt in der Weihnachtszeit als vertrauter und angenehmer empfinden als in der Sommerzeit. Zu debattieren wäre, ob die emotionale Wahrnehmung weihnachtlicher Primärreize biologische Gründe hat oder kulturell konditioniert ist.
Für letzteres spricht eine Studie, die ein Psychologenteam um Michael Schmitt von der kanadischen Simon Fraser University im Fachblatt Journal of Experimental Social Psychology (Bd. 46, S. 1017, 2010) veröffentlichte: Die Forscher setzten eine Gruppe von Probanden während der Adventszeit in zwei unterschiedliche Testkabinen, in denen sie an einem Computer Fragebögen über ihre emotionale Befindlichkeit ausfüllen mussten. In der einen Kabine stand ein kleiner Weihnachtsbaum.
Bei der Auswertung ergab sich, dass Sikhs und Buddhisten sowie nicht-feiernde Weihnachtsgegner sich in der Gegenwart der Tanne etwas schlechter fühlten als feiernde Christen. "Die Gegenwart eines Weihnachtssymbols bewirkte, dass sie sich weniger angenommen fühlten und ihr Selbst bedroht sahen", resümiert Studienleiter Schmitt besorgt. Ob man nicht erwägen sollte, Weihnachtssymbole der lieben Integration wegen aus dem öffentlichen Raum zu entfernen? Oder soll man vielleicht kulturell kombinierte, religiös weniger besetzte Weihnachtserlebniszonen schaffen?
Das ist eine Idee, wie sie nur politisch überkorrekte Sozialwissenschaftler haben können. Man muss nicht fromm sein, um zu erkennen dass eine dürre Jahresendflügelfigur nicht ohne weiteres einen ordentlichen Rauschgoldengel ersetzen kann. Und so sinnentleert und überflüssig manchem das Weihnachtsfest erscheint, so ist es doch schwer zu ersetzen. Wäre ein verlängertes Wochenende im Matschwetter die Alternative?
Vielleicht wäre es sinnvoller, gelassen einer Grundeinsicht der modernen Ritualforschung zu folgen, nämlich dass es nicht so sehr um die Inhalte geht: Rituale wie das Weihnachtsfest stiften trotz allen Ärgers Gemeinschaft und binden ein in den Lauf der Zeiten. Sie künden vom Fortbestand der Welt, weil sie sich wiederholen.
"Das ist doch das Schöne", sagt Ritualforscher Axel Michaels von der Uni Heidelberg: "Rituale funktionieren auch, wenn man nicht an sie glaubt." Man muss sie dazu aber immer noch aufführen.