Der Terrorist Viktor Zokas, den seine Feinde - Freunde hat er keine - Renard nennen, kennt kein Mitgefühl. Viele andere Emotionen sind ihm ebenfalls fremd. In dem James-Bond-Film "Die Welt ist nicht genug" aus dem Jahr1999 ist er Gegenspieler von 007. Einst hat Renard von Bonds Geheimdienstkollegen 009 eine Kugel in den Kopf bekommen, die nicht entfernt werden kann. Sie schaltet nach und nach seine Empfindungen aus.
Seit dem Vorfall kann der Übeltäter nicht mehr riechen, schmecken, fühlen - und auch keine Schmerzen mehr spüren. Untergebene bestraft er schon mal, indem er ihnen glühendes Vulkanmagma in die Hand drückt. So wenig er das heiße Gestein in seiner Hand spürt, so wenig fühlt er den Schmerz der anderen.
Der Agententhriller treibt in der fiktionalen Gestalt Renards auf die Spitze, was Forscher in Laborstudien wie in Tests im Hirnscanner bestätigt finden: Mitgefühl besteht im Wortsinne darin, nahezu das gleiche zu fühlen, zu erleiden und zu erleben, das ein anderer fühlt. Die neuronalen Netzwerke im Gehirn feuern in ähnlichen Erregungsmustern - unabhängig davon, ob man Freud und Leid nur beobachtet oder selbst die entsprechenden Erfahrungen macht.
Seelisches und körperliches Leid liegen auch im Mitleid nah beieinander. Die Psychologen Naomi Eisenberger und Matthew Liebermann konnten zeigen, dass Probanden, die in einem Video ansehen mussten, wie Menschen aus einer Gruppe ausgeschlossen wurden, in ihren Aktivitätsmustern im Gehirn so reagierten, als ob sie den Schmerz der Ausgrenzung körperlich spürten; ihre neuronalen Schaltkreise feuerten ähnlich.
Empathie und Wahrnehmung
Der französische Aufklärer Denis Diderot hatte sich schon 1749 im Brief über die Blinden gefragt, wie sehr Mitgefühl von der Sinneswahrnehmung abhängig ist: Gesetzt, ein Mensch wird ohne einen Klagelaut neben einem Blinden ermordet. Der Blinde hört das Blut fließen, kann es aber nicht unterscheiden von einem Menschen, der Wasser lässt. Wenn Empathie so sehr von der Wahrnehmung abhängig sei, müsse es dem Blinden mit seinen beschränkten Sinnen wohl an Menschlichkeit fehlen, so Diderots Gedanke - umgekehrt sei ein Mord ein Leichtes, wenn es gelänge, sich nicht in seinen Sinnen erschüttern zu lassen.
Seit Neuroforscher um Giacomo Rizzolatti aus Parma 1995 bei Affen Spiegelneurone entdeckt haben, scheint dem Mitgefühl ein fester Platz im Gehirn zugewiesen zu sein. Nervenzellen im Scheitellappen könnten dafür verantwortlich sein, dass Menschen Handlungen vorausahnen, bevor sie geschehen, und aus kaum merklichen Bewegungen schließen, was wohl folgen wird. Weil die Nervenzellen nicht nur während eigener Handlungen feuern, sondern auch auf das Verhalten des Gegenübers reagieren, werden sie Spiegelneurone genannt.
Das Gehirn generiert dazu eine "Als-ob-Schleife" - es ahmt Bewegungen und Muster nach und aktiviert entsprechende Nervenbahnen. Die eingehenden Informationen erhalten im Limbischen System, das als "Gefühls-Gehirn" gilt, eine Art emotionale Signatur. Die eben noch neutral wahrgenommenen Bewegungen und Verhaltensabläufe werden mit Gefühl eingefärbt.
Ob Menschen über Spiegelneurone verfügen, war lange umstritten. Dennoch ist die Forschungsrichtung inzwischen so populär, dass Spiegelneurone für vieles herhalten müssen: Wenn beim Flirt die Augen werben und sich ohne Absprache Mund zu Mund findet. Wenn man im Gespräch die Beine in dem Moment übereinander schlägt, in dem es der andere tut, wenn man in der Fußgängerzone Entgegenkommenden ausweicht, ohne sich über die Richtung verständigt zu haben, wenn der Torwart beim Elfmeter die richtige Ecke erspürt - alles könnte die Leistung dieser Neuronen sein. Dass Erwachsene selbst den Mund aufmachen, wenn sie Babys füttern, ist demnach auch den mitfühlenden Nerven zu verdanken.
Naheliegend daher, dass einige Forscher vermuten, dass bei Autisten die Spiegelneurone nicht gut funktionieren. Typisch für Autisten ist ja, dass sie Blicke und Gesten nicht richtig deuten können und beispielsweise aufgeschmissen sind, wenn nur belanglos Smalltalk geredet wird. Während dieses kognitive Einfühlungsvermögen bei Autisten kaum ausgeprägt ist, sind sie hingegen sehr wohl zu affektiver Empathie in der Lage und fühlen Schmerz und Leid mit.
Das Hanldungsziel im Spiegel
Neuronale Resonanzphänomene könnten auch erklären, warum es nicht nur möglich ist, Handlungen des Gegenübers zu erahnen, sondern auch zu verstehen, in welcher Absicht sie ausgeführt werden. So schließt jeder menschliche Beobachter aus Umfeld und Art des Zugriffs, ob eine Tasse angefasst wird, um zu trinken oder um sie wegzuräumen.
Mitgefühl und Empathie sind im Gehirn jedoch nicht nur auf Spiegelneurone begrenzt. So wird im sekundären prämotorischen Kortex - einer Hirnregion zwischen Stirn- und Scheitellappen - der Tast- und Berührungssinn aktiviert, wenn Probanden am Bein gestreichelt werden. Ein ähnliches Aktivierungsmuster ergibt sich, wenn Probanden im Film sehen, wie eine Giftspinne über das Knie eines anderen krabbelt und sie dann selbst Gänsehaut bekommen.
Wie weit das Mitgefühl des Menschen reicht, hat Denker schon früh beschäftigt. In Honoré de Balzacs Roman Vater Goriot von 1834 wird ein Gedankenexperiment geschildert, das unter dem Begriff "Seinen Mandarin töten" in die Philosophiegeschichte eingegangen ist. Dazu stelle man sich vor, allein durch seinen Willen einen alten, reichen Mann in China umbringen zu können. Nach dieser Tat könne man sein Leben lang im Luxus leben - diese Versuchung war offenbar für viele Denker groß.
Geografische wie soziale Distanz zum Leid ist offenbar entscheidend für den Grad des Mitgefühls. Balzac skizziert die gleichgültige Haltung gegenüber fernem Unglück 1844 in Modeste Mignon: "Die Engländer töten in Indien Tausende von Menschen, die genauso viel wert sind wie wir, und in der Minute, in der ich zu Ihnen spreche, verbrennt man dort die hinreißendste Frau. Trinken Sie deswegen zum Frühstück eine Tasse Kaffee weniger?" Etwas später heißt es: "Zu dieser Stunde gibt es in Paris Mütter, die auf Stroh liegen und ein Kind gebären ohne ein Tuch, um es darin zu wickeln."
In Dostojewskis Roman Schuld und Sühne (1866) wird die Mitleids-Frage um eine moralische Form der Güterabwägung erweitert. "Ein dummes, bedeutungsloses, minderwertiges, böses, krankes Weib, das kein Mensch braucht, das im Gegenteil allen schadet, das selbst nicht weiß, wozu es lebt, und das morgen von selbst sterben wird", soll ermordet werden. "Schlag sie tot und nimm ihr Geld, um dich später mit seiner Hilfe der ganzen Menschheit und der gemeinnützigen Sache zu widmen." Der Mörder kennt nicht nur kein Mitgefühl. Indem er die Menschheit von einem nutzlosen Geschöpf befreit, wird der Täter sogar zum Wohltäter stilisiert.
Distanz und Moral spielen auch in der Ausprägung des Mitleids mit heutigen Opfern eine Rolle. Der Tsunami in Asien und das Erdbeben in Haiti ließen viele Deutsche spenden. Die Flut in Pakistan brachte wenig Mitleid hervor - sofern ein geringes Spendenaufkommen ein Gradmesser dafür ist. Die Sorge, mit dem Geld ein korruptes Regime und radikale Islamisten zu unterstützen, ließen die Hilfe für Pakistan dürftig ausfallen.
Das große Herz der Frau
Tania Singer vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig hat gezeigt, dass Männer und Frauen auf unterschiedliche Weise Gerechtigkeitsempfinden und Mitgefühl koppeln. Sie ließen Probanden zunächst beobachten, wie sich Teilnehmer eines Spiels verhielten, bei dem sie andere fair behandeln oder übervorteilen konnten. Anschließend wurden die Spieler peinigenden Schmerzreizen ausgesetzt. Männer zeigten ausschließlich Empathie für diejenigen, die sich zuvor im Spiel untadelig verhalten hatten. Frauen litten auch stärker mit den Gerechten, verspürten aber in erheblichem Maße ebenso Mitgefühl mit den Fieslingen.
Die Ansprüche an das Mitgefühl überfordern die Menschen. Man soll sich hineinversetzen in bedrohte Völker und in tropische Wälder; dabei sind weder zeitlich noch räumlich Grenzen gesetzt, so dass sich Staatsmänner für Verbrechen entschuldigen, die vor Hunderten von Jahren begangen worden sind. "Die Schwierigkeiten einer so umfassenden Forderung der Einfühlung sind offensichtlich: Man muss ein Virtuose des Mitgefühls sein, um die Erweiterungspostulate dieser Moral erfüllen zu können", schreibt Henning Ritter in seinem empfehlenswerten Buch Nahes und fernes Unglück - Versuch über das Mitleid.
In der Masse der Katastrophen müssen Gräuel durch Foto, Film und Fernsehen nachvollziehbar werden, um noch zu berühren. Als der Polizeichef von Saigon 1968 einen Vietcong-Angehörigen vor laufender Kamera exekutierte, wurde das - preisgekrönte - Bild zum Inbegriff mitleidloser Gewalt. Existieren wenig Bilder der Exzesse und Katastrophen, wird den Opfern auch wenig Mitleid entgegengebracht. Der Grad der Empathie hängt nicht nur von Nähe und Moral ab, sondern auch von der Kunst der Inszenierung.
Alle Texte der Serie sind zu finden unter www.sueddeutsche.de/gefuehle