Süddeutsche Zeitung

Gemischte Gefühle: Verwirrtheit:"Hier geht es um Killerhaie"

Verwirrtheit verbinden wir oft mit geistiger Schwäche im Alter. Doch man kann das irritierende Gefühl auch produktiv nutzen: Es lässt uns erkennen, wann eine Verhaltensänderung nötig ist und ermöglicht einen Neustart im Kopf.

Christian Weber

Es geht ganz leicht, sich verwirrt zu fühlen: Runzeln Sie die Stirn und ziehen Sie die Augenbrauen zusammen, kneifen Sie dann die Augen zusammen und beißen Sie leicht mit den Zähnen auf Ihre Unterlippe - das Gesicht sollte dabei ein wenig asymmetrisch aussehen.

Dann horchen Sie in sich hinein: Spüren Sie etwas? Wenn nicht, dann versuchen Sie Ihren neuen Flachbildschirm zu verstehen, lesen Sie die konjunkturpolitischen Ratschläge im Wirtschaftsteil Ihrer Zeitung oder versuchen Sie, eigenständig den günstigsten Bundesbahn-Tarif für den nächsten Familienausflug zu ermitteln; und wenn selbst das nicht hilft, besuchen Sie eine abgefahrene Kunstausstellung.

Irgendwann wird es schon klappen, denn eigentlich ist der Zustand der Verwirrtheit ja eine angemessene Reaktion auf den Zustand der Welt und der Dinge im 21. Jahrhundert.

Tatsächlich besagt eine unter Fachleuten bei ihrer Publikation heftig diskutierte Studie, dass die Verwirrtheit - nach der Freude - die häufigste Emotion ist, die sich in den Gesichtern zufällig ausgewählter Passanten finden lässt (Emotion, Bd. 3, S. 68, 2003), wahrscheinlich auch deshalb, weil ihr mimischer Ausdruck eben relativ leicht zu erkennen ist.

Umso erstaunlicher sei es, kommentiert Studienautor Paul Rozin von der University of Pennsylvania, dass die Verwirrtheit in den meisten Taxonomien der Emotionen gar nicht auftaucht. Vielleicht liegt das daran, dass die Verwirrtheit häufig reduziert wird auf die organisch bedingten Bewusstseinsstörungen, wie sie nicht selten bei älteren Menschen auftreten, die aufgrund von Krankheit, zu geringer Flüssigkeitsaufnahme oder den Nebenwirkungen von Medikamenten unter Orientierungsstörungen, innerer Unruhe oder Halluzinationen leiden.

Vorübergehender kognitiver Kreiselflug

Doch andere Psychologen interpretieren die Verwirrtheit positiver als einen vorübergehenden kognitiven Kreiselflug, der aber auch einen Neustart im Kopf ermögliche. Sie sei Signal für einen Neuanfang, so wie ihn jeder Mensch zu Beginn seines Lebens erfährt.

Der Psychologe William James hatte diesen Zustand bereits 1890 so beschrieben: "Das Baby wird so bestürmt durch Augen, Ohren, Nase, Haut und innere Organe zugleich, dass es die Welt erfährt als eine einzige blühende und summende Verwirrung."

Über die Zeit aber lernt der Säugling, Sinn in der Welt zu erkennen, seine Aufmerksamkeit den interessanten Dingen zuzuwenden und jene Details zu ignorieren, die für ihn nicht relevant sind.

Noch heute werde unterschätzt, wie lange Kinder brauchen, bis sie tatsächlich verstehen, wie die Dinge laufen. Die Psychologen Daniel Anderson und Katherine Hanson von der University of Massachusetts haben dies vor kurzem exemplarisch am Erwerb der TV-Kompetenz dargestellt (Developmental Review, Bd. 30, S.239, 2010).

Sie kritisieren, dass in der Medienwirkungsforschung der Fernseher gemeinhin nur als eine Art elektronisches Fenster verstanden werde, bei dem es genüge, die vor ihm verbrachte Zeit zu messen.

Tatsächlich sei selbst der Konsum der ebenso simplen wie beliebten Baby-Videos vor allem verwirrend: die Auflösung der Details sei geringer, das Gesichtsfeld kleiner, es fehle die räumliche Tiefe, der Zusammenhang von Bildern und Tönen sei manchmal unklar.

Die sekundenschnellen Schnitte, Zooms und Perspektivwechsel überforderten das Gehirn des Kleinkindes und seien vielleicht sogar mit Schuld an der späteren Entwicklung von chronischen ADHS-Symptomen. Erst im Alter von etwa 13 Jahren könne ein Kind wirklich kompetent fernsehen.

Das Problem und die Herausforderung sei aber, bemerkt der auf ästhetische Emotionen spezialisierte Psychologe Paul Silvia von der University of North Carolina in Greensboro, dass auch Erwachsene mit voll ausgebildetem kognitiven Apparat etwa auf moderne Malerei, experimentelle Musik oder zeitgenössische Literatur mit dem Gefühl der Verwirrtheit reagierten.

Irritierende Emotionen in die richtige Bahn lenken

"Sie ist die typische Emotion von Anfängern, die mit Werken konfrontiert werden, die sie nicht verstehen." Dies führe leider häufig dazu, dass Menschen ihre Geisteskräfte auf andere Dinge richten. "Verwirrtheit ist ein metakognitives Signal", sagt Silvia.

"Es informiert Menschen, dass sie nicht verstehen, was gerade passiert, und dass eine Verhaltensänderung nötig ist, etwa eine neue Lernstrategie, mehr Anstrengung oder auch ein Rückzug." Die Herausforderung sei es nun, ob in der Kunst oder anderswo, die irritierende Emotion in die richtige Bahn zu lenken, sie also als Denkanstoß zu nutzen.

In einer Studie für das Fachmagazin Psychology of Aesthetics, Creativity, and the Arts (Bd.4, S. 75, 2010) beschrieb Silvia vor kurzem, wie er sich eine solche emotionsbasierte Kunstpädagogik vorstellt: Zuerst verwirrte er seine 50 Versuchsteilnehmer, indem er sie ein Gedicht mit leicht kryptischen Versen lesen lies, die ungefähr so zu übersetzen sind:

"so kühn gegen die Menschen / mit einer so großen Kehle / getrennt durch hundert Jahre / voller Missgeschick: der blutige / Ausfluss, genommen in einem Anfall von Wahnsinn / nahe daran Menschenfleisch zu essen / um zu gegebener Zeit vermessen zu werden / von den Naturforschern."

Silvia konnte nun statistisch signifikant nachweisen, so berichtet er stolz, dass die Verwirrung der Teilnehmer nachlies und ihr Interesse an dem Gedicht wuchs, wenn ihnen ein Schlüssel zum Textverständnis mitgeliefert wurde, nämlich: "Hier geht es um Killerhaie." Alles klar?

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.975594
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 16.07.2010/cosa/mcs
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.