Gemischte Gefühle: Heimatgefühl:Im Wohlfühl-Ort

Es gibt wohl kaum ein Wort, das so zwischen Intimität und Weltpolitik zerrissen wird wie: Heimat. Doch in Zeiten der Globalisierung gewinnt das Heimatgefühl wieder an Bedeutung.

Christina Berndt

Philosophen suchen verzweifelt nach den richtigen Worten, wenn sie beschreiben sollen, was Heimat für sie bedeutet. So selten ist eine Definition gelungen, dass ein Denker immer wieder zitiert wird: Ernst Bloch, der am Schluss seines Werkes "Prinzip Hoffnung" schreibt, Heimat sei das, was "allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war". Doch wo Philosophen taumeln, hat Bastian Schweinsteiger eine gradlinige Antwort. "Ich habe auf mein Herz gehört", sagte der Starfußballer des FC Bayern München, als er vor kurzem alle Angebote ausländischer Vereine in den Wind stieß und sich entschloss, an der Säbener Straße zu bleiben. Mit diesem Ort verbinde ihn ein Heimatgefühl, sagte er, und brachte eine glasklare Definition: "Ich kenne die Angestellten und weiß, wo die Toiletten sind."

Schneekugel mit Neuschwanstein

Neuschwanstein in der Schneekugel: Nur noch sieben Prozent der Deutschen verbinden Enge und Spießigkeit mit dem Begriff Heimat.

(Foto: Heddergott)

Heimatgefühle waren lange Zeit so out wie Poster von Luis Trenker und Hans Albers in der WG-Küche. Doch in einer Welt, in der man schnell den Boden unter den Füßen verliert, ist das Gefühl wieder willkommen. Und was, wenn nicht Heimat, vermittelt Zugehörigkeit und Halt? Sie ist ein Stück Unvergänglichkeit in der vorbeirauschenden Zeit und ein Ort, an den man gehört.

Ganz offensichtlich erlebt der Begriff "Heimat" eine Renaissance. 88 Prozent der Bundesbürger stuften ihn einer Umfrage der Hamburger Sozialbehörde zufolge als "wichtig" oder "sehr wichtig" ein, nur zwei Prozent sagte er gar nichts. Dabei scheint der Begriff mit höherem Alter wichtiger zu werden. Aber auch junge Leute fühlen sich heute wieder stärker heimatverbunden als Ende des vergangenen Jahrtausends. Sie finden es schick, Jägermeister im Schrebergarten zu trinken, Volkslieder beim Bergwandern zu singen und in Dirndl oder Lederhose aufs Oktoberfest zu gehen. Und Deutschland-Wimpel am Auto sind während sportlicher Großereignisse schon fast ein Muss geworden. Auf der Suche nach dem schönsten deutschen Wort landete "Heimat" im Jahr 2004 auf einem der Spitzenplätze. Nur noch sieben Prozent der Deutschen verbinden mit diesem Begriff vor allem Enge oder Spießigkeit.

Was vor kurzem noch als abstoßend kitschig galt, scheint nun zum Zielort einer allgemeinen Sehnsucht nach bleibenden Werten zu werden. Globalisierung und Finanzkrise haben die Menschen in ihrem bisherigen Streben nach Ferne und Weite, in ihrer Sehnsucht nach fremden Ländern und Kulturen so stark verunsichert, dass sie ihr Heil wieder in der Welt der Traditionen suchen, wie Volksmusik, Luis Trenker und eigene Kinder sie verkörpern. Heimatliebe gelte wieder als "unpolitisches, kommerzfreies und tief menschliches Bedürfnis", sagt die Berliner Autorin Verena Schmitt-Roschmann, die vor kurzem ein Buch mit dem Titel "Heimat - Neuentdeckung eines verpönten Gefühls" verfasst hat. Sogar die großen Globalisierer haben diesen Trend erkannt und besinnen sich aufs Regionale, wie der Historiker Heinz Schilling betont, der bis vor kurzem an der Humboldt-Universität Berlin gelehrt hat. Bei McDonald's gibt es auf dem Burger neben Rinderhack deshalb auch mittlerweile Nürnberger Bratwürste.

"Heimat ist heute eine Sehnsuchtslandschaft der Gefühle", sagt Schilling. Dabei sei das Gefühlige zu dem Begriff erst spät gekommen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein sei Heimat ein juristischer Begriff gewesen. Wer einer Heimatscholle zuzuordnen war, der besaß Bürgerrechte. Es ging also nicht um Emotionen, sondern um Ansprüche.

Heute ist nicht einmal mehr klar, wo die Heimat eigentlich liegt. Sie kann ein ganzes Land sein, aber auch eine Gegend oder ein kleines Dörfchen, das schon mit dem Nachbardörfchen in Feindschaft lebt. Und obwohl Großstädter mit ihrem direkten Nachbarn oft nicht mehr als die gemeinsame Adresse verbindet, empfinden viele von ihnen doch ihren Straßenzug als Heimat.

Auch ein Chatroom kann Heimat sein

Heimat muss aber gar kein Ort mehr sein, betont die Psychologin Beate Mitzscherlich von der Westsächsischen Hochschule Zwickau, die gerade eine umfassende Studie zum Thema verfasst hat. "Heimat ist ein inneres Konstrukt und nicht unbedingt ein realer geographischer Ort", sagt sie. Viele Menschen finden in sozialen Beziehungen ihr Zuhause, in ihrer Familie etwa oder bei Freunden. Bei anderen stellt sich das Gefühl tiefer Zufriedenheit und Wohligkeit vor allem dann ein, wenn sie vertraute Gerüche oder Geschmäcker aufnehmen oder in alten Geschichten schwelgen. "Manche Menschen sagen auch ,Meine Heimat bin ich'", so Mitzscherlich. Sogar Yoga, Meditation oder Religion können ein solches inneres Heimatgefühl auslösen.

Weil Heimat heute weniger örtlich geprägt sei als in früheren Jahrhunderten, sei sie auch "gestaltbarer, wählbarer, veränderbarer als je zuvor", ergänzt der Kulturwissenschaftler Wolfgang Kaschuba von der Humboldt-Universität. Die Menschen suchen sich entsprechend ihren Bedürfnissen neue Heimaten. Das kann sogar ein Chatroom sein.

Was Heimat ausmacht, bestimmen heute nicht mehr Propagandaminister und auch nicht die Politiker. Alle Menschen definieren ihre eigenen kleinen Heimatgefühle. Zu wissen, wo die Toiletten sind, ist nur eines von vielen. Manche Menschen fühlen sich aufgehoben, wenn sie endlich einmal wieder den Kartoffelsalat genauso essen, wie ihn Muttern immer zubereitete. Anderen geht beim Blick übers weite Meer das Herz auf, wieder andere möchten am liebsten gleich jeden umarmen, dessen Dialekt an den ihrer Kindheit erinnert.

Kindheit und Heimat sind ohnehin eng miteinander verbundene Begriffe, wie schon das so häufig zitierte Bloch-Zitat zeigt. Auf die Frage des Meinungsforschungsinstituts Emnid danach, was Heimat denn sei, nannten 68 Prozent der rund 1000 Befragten ihre Familie. Mit großem Abstand kam auf Platz zwei die Vertrautheit (42 Prozent), gefolgt von Geborgenheit (40 Prozent) und Kindheit (39 Prozent). Erst dann folgten der Geburtsort (33 Prozent), Traditionen (25 Prozent) und Deutschland (19 Prozent).

"Heimat ist der Versuch, die Kindheit verwandelnd einzuholen", sagt der Leipziger Philosoph Christoph Türcke. Kann man denn etwas Vergangenes einholen, noch dazu verwandelnd? Ja, sagt Türcke, "so paradox ist Kindheit". Ist sie doch "die Zeit eines Erlebens, das so tief ging, dass es aller weiterer Erfahrung den Weg gebahnt hat und ihr insofern uneinholbar voraus liegt". Kindheit könne nicht vergegenwärtigt werden, ohne bedeutender zu werden, schreibt Türcke im Themenheft "Heimat" des Philosophie-Journals Der blaue Reiter.

Dem Verstand nur schwer zugänglich

Dass die Kindheit das Heimatgefühl so sehr prägt und häufig sogar mit ihm verschmilzt, können Hirnforscher auch neurobiologisch erklären. Am stärksten brennen sich Ereignisse ins Gehirn ein, wenn sie mit starken Emotionen besetzt sind oder wenn sie häufig wiederholt werden. Auf das Erleben der Kindheit treffe oft beides zu, sagt Holger Schulze vom Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg. Die Verknüpfungen im sich entwickelnden Gehirn werden dadurch so stark, dass verschiedene Bilder, Gerüche, Klänge oder Berührungen ein Leben lang Wohlgefühl auslösen.

Auch wenn sie eine Konstruktion aus Kindheitserinnerungen und subjektiven Deutungen ist: "Heimat ist super", sagt der Essener Sozialpsychologe Harald Welzer. Sie gebe in einer zunehmend komplizierter und unüberschaubar werdenden Welt Orientierung. Er glaube nicht an eine kosmopolitische Postmoderne, in der jeder überall und nirgendwo zu Hause sei. Dem stimmt auch Hartmut Rosa zu. Es gebe durchaus Menschen, die sich in der Lufthansa-Lounge oder dem ICE zu Hause fühlen, schreibt der Soziologieprofessor von der Universität Jena ebenfalls im Blauen Reiter. Doch die meisten Deutschen kämen dem Anspruch an Flexibilität und Mobilität nur relativ ungern nach. "Die Mehrheit ist nicht bereit, für einen Arbeitsplatz den Wohnort zu wechseln", so Rosa.

Doch bei allem Positiven, das der Mensch des beginnenden 21. Jahrhunderts der Heimat abgewinnen kann: Es bleibt auch die andere, die dunkle Seite des Heimatgefühls, das verklärt, verkitscht und von Ideologen missbraucht wurde. Es gibt kaum ein Wort, das so zwischen Intimität und Weltpolitik zerrissen wird. Während Heimat vielen Geborgenheit vermittelt, erleben andere sie als finsteres Verlies, aus dem es kein Entkommen gibt. Und wieder andere spüren Heimat vor allem dann, wenn sie fehlt, und kranken unheilbar am Verlust dieses Wohlfühl-Ortes.

Doch während sich Psychologen und Psychosomatiker mit dem Thema Heimweh intensiv auseinandergesetzt haben und zwischen Auslösern und Prävention so ziemlich alles erforscht ist, gibt es zum Thema Heimatgefühl kaum harte Wissenschaft. Einen Grund dafür glaubt Peter Blickle zu kennen. Der Historiker und langjährige Professor an der Universität Bern, der in den USA eine vielbeachtete Publikation unter dem Titel "Heimat - A Critical Theory of the German Idea of Homeland" herausbrachte, sagte einmal, dass er selbst unter Wissenschaftlern oft einen eigenartigen Widerwillen verspüren, wenn er versuche, sich dem Begriff Heimat zu nähern. "Es ist, als verstoße man gegen ein stillschweigendes Einverständnis: dass Heimat letztlich nicht mit dem Verstand zu begreifen ist, sondern sich nur dem erschließt, der sich emotional mit ihr identifiziert."

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