Es ist einer der umstrittensten und zugleich berühmtesten Versuche der Verhaltensforschung, und die Filmdokumentation ist so anrührend wie grausam: 1957 setzte der amerikanische Forscher Harry Harlow junge Rhesusaffen allein in einen Käfig und ließ ihnen die Wahl zwischen zwei Mutterattrappen.
Eine bestand nur aus Draht und bot Futter an. Die andere war mit Stoff bespannt, bot aber keine Milch. In den Filmen sieht man ein hektisches, kleines Affenbaby, das zu der Drahtmutter rennt, kurz trinkt und sich dann Schutz suchend an die Stoffmutter drückt. Es verlässt diese nur, um eilig den größten Hunger an der Drahtmutter zu stillen.
In Momenten der Angst drücken sich die Tiere an die Stoffmutter. Harlow schloss aus seinen Experimenten, dass Füttern allein nicht reicht, um ein Baby glücklich zu machen. Es sucht vor allem Geborgenheit.
"In der Evolution hat Geborgenheit eine tragende Funktion", sagt Hans Mogel von der Universität Passau. "Sie ist eine Grundvoraussetzung für Spiel, und das wiederum geht der Kulturentwicklung des Menschen voraus - es gibt keine Kultur ohne Spiel." Geborgenheit ist demnach ein Fundament der Entwicklung des Lebens. Sicherheit und Schutz, aber auch Wärme, Vertrauen, Akzeptanz und Liebe gelten unter Psychologen als Bestandteile dieses komplexen Gefühls.
Wird man in den Arm genommen, schaffen Berührungen Vertrauen und damit Geborgenheit. Die Haut sendet Signale ans Gehirn. Warum dieses darauf mit Vertrauen reagiert, ist unklar, aber Studien zeigen, dass ein Käufer dem Autohändler eher vertraut, wenn der ihn am Arm berührt. Überreicht die Kellnerin die Rechnung mit Hautkontakt, bekommt sie mehr Trinkgeld.
Geborgenheit entsteht aus Wiederholung, aus bekannten Mustern. Man fühlt sich geborgen, wenn man immer wieder die Erfahrung macht, sich auf etwas verlassen zu können - auf die Familie, Freunde, den Staat, Gott oder sich selbst. Auch Wärme schafft Geborgenheit, sogar ein Becher Kaffee. Menschen mit einem warmen Getränk in der Hand fassen mehr Vertrauen zu ihrem Gegenüber. In früher Kindheit Körperwärme der Bezugsperson zu erfahren, ist wichtig, um als Erwachsener emotionale Wärme wahrnehmen und geben zu können.
Kinder erfahren Geborgenheit vor allem durch Bezugspersonen, die sie zuverlässig ernähren, in den Arm nehmen, mit ihnen sprechen, spielen und sie beschützen. Fehlt dieses, können sich Kinder nicht richtig entwickeln. Frühe Trennungen, traumatische Erlebnisse und emotionale Kälte vermuteten Forscher schon lange als Auslöser für Hyperaktivität, Autismus, Essstörungen, Schizophrenie oder Depressionen.
An Ratten zeigten Forscher der McGill-Universität in Kanada, dass Jungtiere stressresistenter werden, wenn die Mutter sie besser umsorgt. Besser umsorgen heißt in der Rattenwelt: häufiger lecken. Wie konnte das sein? Das Erbgut der umsorgten Rattenbabys ähnelte Artgenossen der gleichen Zucht.
Die israelische Forscherin Eva Jablonka beschrieb das Konzept, wie Verhalten über die Aktivierung von Genen vererbt wird. Das Lecken der Mutter aktiviert ein Gen, das zwar bei allen Artgenossen vorhanden ist, aber erst durch diesen Reiz verstärkt in Aktion tritt. Bei Rattenbabys werden durch das Lecken mehr Glucocorticoid-Rezeptoren ausgeprägt, die das Stresssystem dämpfen. In der nächsten Generation wird nicht nur der aktivierte Status des Gens vererbt, sondern auch die Neigung zum Lecken - eine weitere Generation geborgener Ratten wächst heran.
Doch auch ohne Veränderung der Gene hinterlässt Geborgenheit Spuren. Katharina Braun und Jörg Bock von der Universität Magdeburg konnten an Küken und Degurattenbabys zeigen, dass fehlende Geborgenheit durch ein Muttertier zu Veränderungen im Gehirn führt. Sie trennten kleine Degurattenbabys stundenweise von ihren Müttern. Deguratten sind sehr sozial und eine Trennung von Mutter und Baby ist ein mit Stress und Angst verbundenes Erlebnis. Offenbar so stressbeladen, dass im für Gefühle zuständigen limbischen System der Degus die Nervenaktivität reduziert wurde.
In anderen Bereichen des Gehirns passierte hingegen mehr: Die kleinen Degus wurden durch den Stress daran gehindert, überschüssige Nervenverbindungen wieder abzubauen, wie es bei normal aufwachsenden Jungtieren geschieht. Die gestressten Tiere bildeten zusätzliche Verbindungen vor allem in Hirnregionen, die für Sucht, Angst und Aggression sowie das Gedächtnis wichtig sind. "Diese Veränderungen wirken sich direkt auf das spätere Lern- und Sozialverhalten aus", schreibt Braun. Die Tiere seien extrem aktiv und reagierten schlechter auf mütterliche Lockrufe. Ein Zusammenhang mit Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen liegt nahe.
Lecken, Lausen, Kuscheln - jede Spezies hat ihren Weg, um ein gesundes Aufwachsen, Bindung, Sicherheit und damit Geborgenheit herzustellen. Affen nutzen gegenseitige Körperpflege, um Koalitionen zu schmieden, die ihnen zugute kommen, wenn der Stress in der Gruppe steigt. Weibchen, die in schwierigen Situationen ihre Körperpflege-Clique weiter ausbauten, hatten weniger Stress als solche, die sich nur auf die engsten Partner konzentrierten. Lausen setzt Endorphine frei, beruhigt und gibt ein Gefühl der Geborgenheit.
Gibt man Primaten körpereigene Opiate, stellen sie ihre Körperpflege-Aktivitäten nahezu ein, wie Robin Dunbar kürzlich im Fachblatt Neuroscience & Biobehavioral Reviews zeigte. Blockiert man hingegen die Opiat-Rezeptoren, können die Affen vom Lausen nicht genug bekommen. Sogar Delphine nutzen diesen Effekt: Durch "Flossenreiben" (Flipper-Rubbing) reduzieren sie Spannungen in der Gruppe.
Geborgenheit durch Körperkontakt hilft auch Frühgeborenen. Bei der sogenannten Känguru-Methode tragen Mütter zu früh geborene Babys direkt Haut an Haut. Das Kind hört Stimme und vertrauten Herzschlag, wird wie im Mutterleib gewiegt, riecht den vertrauten Duft seiner Mutter. Kinder, die so betreut werden, nehmen schneller an Gewicht zu und leiden seltener an Überhitzung, Blutzuckerschwankungen oder Infekten. Auch die Mütter sind wesentlich zufriedener und haben eine engere Bindung zu ihren Kindern, was sich auch in höheren Stillraten niederschlägt.
Aber wo finden Erwachsene Geborgenheit? Heimat bietet vertraute Düfte, eine feste Gemeinschaft, Abläufe, die sich ständig wiederholen. Fast 70 Prozent der Deutschen verbinden mit Heimat einen festen Ort. In Bayern sind es sogar 90 Prozent, denen ihre Region ein Gefühl von Heimat vermittelt. Auch Dialekt, Brauchtum und Volksfeste geben ein Gefühl von Heimat und damit Geborgenheit.
Das ist vor allem nötig, wenn das globale Dorf nicht als heimelig empfunden wird. "Wir können heute überall alles machen", sagt Mogel. "Das ist kein Problem, solange die Grundgeborgenheit, also eine existentielle Sicherheit, da ist. Fällt die weg, führt das zu Orientierungslosigkeit und Depression." Das Gefühl, in einer komplexen Welt zu leben und Opfer von Ereignissen zu sein, die nicht zu beeinflussen sind, schaffe "Ungeborgenheit".
Auch Marktforscher haben dies erkannt. Viele Hersteller präsentieren sich als Familienunternehmen und betonen ihre regionale Herkunft. Für einige Menschen liegt im Glauben eine Quelle der Geborgenheit. Die Kirche ist jedoch für viele in den Hintergrund getreten. In einer Umfrage im Jahr 2008 unter 1000 Menschen in neun Ländern gaben mehr als 70 Prozent der Befragten an, dass die Familie ihre Glaubensgemeinschaft sei, während nur zehn Prozent die Kirche nannten.
"Wenn die Menschen keine Geborgenheit mehr erleben, ist dies das Ende einer Gesellschaftsstruktur. Die Folgen sind Unruhen, Konflikte, Aggressionen und Terror", sagt Mogel. Immerhin kann sich jeder Geborgenheit suchen oder schaffen. Mogels Forschung in fünf Weltreligionen zeigt: Wichtig ist nur, dass der Mensch von dem überzeugt ist, was ihm Geborgenheit verschafft. Es muss nicht Glauben sein. Jeder kann seine Einstellungen verändern und darin Geborgenheit finden - durch Yoga, Meditation oder positives Denken.
Mogel ist gerade auf Forschungsreise in Asien und sagt am Telefon: "Ich habe in den letzten Tagen buddhistische Mönche getroffen, die keine Frau haben, keine Familie, die nur Reis essen - aber sie fühlen sich geborgen."
Ob die Menschen an die garantierte Auszahlung ihrer Rente, an Rückhalt in der Familie oder an Gott glauben, ist ohne Belang. "Aber das Schönste ist", sagt Mogel, "wenn die Leute an sich selbst glauben - dann sind sie so geborgen, dann braucht man eigentlich gar keine Götter mehr."