Und plötzlich hieß es, ihr seid frei, ihr seid alle frei! Sie sahen einander ungläubig an, sie weinten, umarmten sich und mussten es tausend Mal wiederholen, um es zu fassen. Sie riefen, sie schrien, sie brüllten: Wir sind frei!
In einem Hubschrauber saßen sie, die französisch-kolumbianische Ex-Politikerin Ingrid Betancourt und ihre Mitentführten, als sie verstanden, dass ihnen die Armee ihre Freiheit zurückerobert hatte. Nach ihrer Entführung 2002 hatte Betancourt sechs Jahre im Dschungel verbracht, häufig angekettet und in einen Käfig gesperrt. Andere Geiseln waren noch länger dort, der Leutnant Raimundo Malagón beispielsweise, der im Helikopter vor einer Fernsehkamera heulte, weil er wieder ein freier Mensch war.
Am 2. Juli 2008 entriss die kolumbianische Armee in einer spektakulären Operation 15 Geiseln den Klauen der Farc-Guerilla. Mitglieder eines Kommandos hatten sich als Menschenrechtler getarnt und die Guerilleros so getäuscht.
Kein Tropfen Blut war vergossen worden. Alle Befreiten sprangen vor Glück auf, brachten den Hubschrauber ins Trudeln - so sehr, dass der Pilot ihnen befehlen musste, sich wieder hinzusetzen.
Was war passiert? Die Geiseln verspürten eindringlich, was Wissenschaftler heute als "äußere Freiheit" bezeichnen, das Gefühl, von externen Zwängen losgelöst zu sein, das häufig mit intensiver Freude verbunden ist. Betancourt und ihre Gefährten waren überwältigt davon, urplötzlich wieder zu jenen Menschen zu gehören, die im Supermarkt einkaufen, Weihnachten mit der Familie verbringen und selbst entscheiden können, was sie in ihrem Leben tun wollen.
Wissenschaftler würden es sich freilich zu leicht machen, das Freiheitsgefühl auf das zu beschränken, was eine Geisel erlebt, die schlagartig frei wird. Äußere Freiheit kennt nur jener, dem sie einmal fehlte. Interessanter ist deshalb die Frage nach dem, was Neurowissenschaftler, Psychologen und Philosophen "innere Freiheit" nennen. Wer sich frei fühlt, glaubt, Herr über sein Leben und seine Entscheidungen zu sein. Doch trifft das wirklich zu?
"Ich war ein freier Mensch, bis ich die Dessertkarte las"
Viele Forscher glauben, dass Neurowissenschaft und Informatik gute Argumente liefern, um diese Frage mit einem Nein zu beantworten: Wir sind nicht frei. Es gibt keine Seele, die unser Ich ausmacht und Entscheidungen trifft.
Freiheit gehört nicht mehr zum Bereich des Gefühlten. Emotionspsychologen betrachten sie deshalb nicht mehr als eine Emotion.
Wie genau die innere Freiheit funktioniert, lässt Forscher heute noch rätseln. Ist sie das Ergebnis eines bewussten Entscheidungsprozesses, in dem der freie Wille eine zentrale Rolle spielt? Oder ist sie die Folge einer komplexen Ansammlung von biologischen Nöten, Vorstellungen, Emotionen und Umständen? Die Lehre, nach der menschliche Handlungen vorbestimmt sind und es keinen Spielraum für ein autonomes Entscheiden gibt, heißt Determinismus.
"Berücksichtigt man unsere besten wissenschaftlichen Theorien, sind es Faktoren, die weit über unsere Kontrolle hinaus reichen, die unsere Handlungen verursachen", sagt der Philosoph Derk Pereboom. Menschen seien deshalb für ihr Handeln nicht verantwortlich. "Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will", sagte bereits Arthur Schopenhauer.
"Ich war ein freier Mensch, bis der Kellner mir die Dessertkarte überreichte", schrieb der US-Wissenschaftsautor Dennis Overbye 2007 in der New York Times über die philosophischen Implikationen eines Restaurantbesuches. Als der Schokoladen-Nachtisch kam, habe er an sein Vorhaben gedacht, auf bessere Ernährung zu achten - und war in ein Loch der Verunsicherung gefallen: Wer hat entschieden? Ich oder mein Magen? Ich, der freie Bürger, der sein kardiales Risiko senken will, oder ein paar aufständische Nervenzellen? Mein Wille? Oder wer?
"Willensfreiheit existiert nicht", sagt Mark Hallet vom National Institute of Neurological Disorders and Stroke in Bethesda. Hallet vertritt dennoch eine These, die sich etwas vom philosophischen Diskurs entfernt und ein neues Verständnis von Freiheit ermöglicht: Freiheit, so Hallet, ist eine Wahrnehmung. Unabhängig davon, ob es tatsächlich innere Freiheit gibt oder nicht - Menschen erfahren sie. Sie haben das Gefühl, frei zu sein.
Viele Psychologen würden den zweiten Teil dieser Aussage noch schärfer formulieren. Frei sein, sei kein Gefühl. Denn Gefühle, so sagen sie, sind nicht-konzeptuelle Begleiterscheinungen von Wahrnehmungen. Und Freiheit ist eine Mischung von Wahrnehmung und komplexen Urteilen.
Dieser Auffassung ist etwa Stephan Lau vom Institut für Allgemeinpsychologie der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. "Forscher konzentrieren sich bisher stark auf die Debatte über die Existenz einer Willensfreiheit", sagt Lau. "Aber Freiheit als Erlebnis, als ein komplexes Urteil, das faktisch gefällt wird, ist noch immer weitgehend unerforscht." Der Mensch, so Lau, besitzt Freiheit, wenn er bewusste Entscheidungen treffen kann. Besonders stark ist diese Freiheit vertreten, wenn die Wahl sich als ein Dilemma herausstellt. Es handle sich hier tatsächlich um die vielzitierte "Qual der Wahl".
Lau erforscht, wie der Mensch in Situationen reagiert, in denen er seine eigene Freiheit zu spüren bekommt. In einem Experiment entwarf er folgendes Szenario: Ein Student und eine Studentin müssen Themen für eine Prüfung aussuchen. Sie kennen sich gut. Der Mann darf als Erster die zwei vorhandenen Themen sehen, wobei ihm sofort klar wird, dass er beide bestehen würde, da er sich mit beiden auskennt. Aber er weiß auch, dass seine Freundin eine Schwäche bei einem der zwei Themen hat. Was tun?
Der Proband steckt in einem Dilemma. Er könnte seiner Freundin helfen, indem er ihr das ihr bekannte Thema überlässt. Oder er könnte sich selbst zu einer besseren Note verhelfen, indem er im Vergleich zu einer schlechten Studentin glänzt. Altruismus oder Egoismus?
Lau bringt seine Probanden in "emotional schwierige" Situationen. Angesichts der Qual der Wahl fühlten sich die Teilnehmer gestresst und unsicher. "Viele erleben die Situation nicht als frei", sagt Lau. Den Teilnehmern sei es nicht so sehr um das Dilemma an sich gegangen, sondern um die Konsequenzen ihrer Entscheidung. Die Frage, ob ihr Handeln moralisch vertretbar wäre, quälte sie. Momente der Freiheit stellten sich als Problem dar. Der Mensch kann also Freiheit als Stress empfinden, als Bürde, die immer mit Verantwortung verbunden ist.
Aber immerhin gehen Psychologen wie Stephan Lau davon aus, dass der Mensch über einen kleinen, aber entscheidenden Spielraum verfügt, um autonom seine Freiheit auszuüben. Würde man auch darauf verzichten, wäre es schwierig, etwa unsere moralische Ordnung aufrechtzuerhalten. Ohne die Annahme von Selbstverantwortung, Mündigkeit und einem Ich, das für seine Handlungen verantwortlich gemacht werden kann, ist Rechtsprechung schwer möglich.
Ein Affe, der auf einem Tiger reitet
Blickt man aber in die Tiefen, die einige Philosophen heute gemeinsam mit Kognitions- und Neurowissenschaftlern erkunden, entfallen Gott und Geist. Und Freiheit wird zum Ergebnis der biologischen Evolution und des komplexen Teamworks eines intelligenten Organismus. Overbye, der dem Schokoladendessert nicht widerstehen konnte, spricht vom bewussten Ich als einem Affen, der auf dem Rücken eines grausamen Tigers reitet, welcher in unserem Unterbewusstsein die Entscheidungen trifft.
Die Frage, ob das Verschwinden des Geistes und der Tod Gottes auch das Ende der Freiheit bedeuten würde, wurde am Ende des 20. Jahrhunderts auch mit Hilfe von wissenschaftlichen Experimenten diskutiert. Den bekanntesten Versuch unternahm der US-amerikanische Neurophysiologe Benjamin Libet in den neunziger Jahren.
Um den Augenblick der Freiheit zu messen, bat Libet seine Probanden, auf eine Uhr zu schauen, um die sich ein Punkt schnell bewegte. Sie sollten sich merken, wo sich der Punkt befand, als sie sich entschieden, eine Handbewegung zu machen. Zugleich maß er die motorischen Aktionspotentiale im Gehirn. Das Ergebnis erschreckte viele Menschen: Den Messungen zufolge hatte das Organ bereits eine halbe bis eine ganze Sekunde vor der bewussten Entscheidung der Probanden die Bewegung vorbereitet.
Während viele Autoren die Libet-Experimente als Beleg gegen die Willensfreiheit interpretierten, widersprach Libet selber dieser Sichtweise: Zwar hätten unbewusste Prozesse die Handlung vorbereitet, aber schließlich könne die bewusste Person vor der Ausführung ein Veto einlegen; somit sei das Experiment ein Beleg für den freien Willen. Ähnlich der indische Neurologe Vilayanur Ramachandran. Er sieht zwar keinen Platz mehr für den freien Willen, wohl aber fürs "freie Verhindern".
Andere wie der US-Philosoph Daniel Dennett zweifeln stark an den Annahmen Libets. Als sogenannter Kompatibilist vertritt er die These, dass Freiheit und Vorbestimmtheit sich nicht ausschließen. Für Dennett ist Freiheit ein Ergebnis der kulturellen und gesellschaftlichen Evolution: Zwar seien Menschen wie alle anderen Gegenstände den Regeln der Physik unterworfen. Die Autonomie für moralisches Handeln und für Verantwortlichkeit aber entfällt aus diesem Grund nicht.
Der Mensch, so Dennett, fühle sich tatsächlich frei: nach einer Befreiungsaktion im tropischen Regenwald oder vor einer Entscheidung, deren Folgen er bereuen kann. Und immer mehr lerne er, auf das Gefühl zu reagieren.
"Eine Atombombe explodiert gemäß den Regeln der Physik", schreibt der südafrikanische Mathematiker George Eillis. "Ob die Explosion stattfindet oder nicht, bestimmen allerdings die Ethik und die Politik."