Süddeutsche Zeitung

Gemischte Gefühle: Ekel:Würgen mit Moral

Unsere kulturelle Prägung entscheidet mit darüber, wovor wir uns ekeln: Ekelgefühle verraten, wovor sich eine Gesellschaft fürchtet und wovon sich ihre Mitglieder abgrenzen möchten.

Sebastian Herrmann

Die Männer wandern gerne nackt. Das zeigen Fotos am Infostand eines Schwulen-Vereins während des Christopher Street Days auf dem Münchner Marienplatz. Auch für andere Freizeitaktivitäten brauchen die Mitglieder keine Kleidung: Eines der Fotos in Postergröße bildet einen Penis ab, dessen Eichel blaue Farbe bedeckt und dessen Schaft mit roten Spritzern bekleckert ist.

Es sieht so aus, als malten die Clubmitglieder gerne mit Fingerfarben, nur eben mit dem Glied. Ein etwa zehnjähriges arabisches Mädchen bleibt vor dem Foto stehen und zeigt auf das bemalte Genital. Die Mutter im langen Gewand und mit freiem Gesicht grapscht sich die Hand des Mädchens und zerrt es vom Foto weg. Die Mimik der Frau entgleist, ihre Unterlippe hebt sich, sie zieht die Haut um die Nase in Falten. Die freie Hand hält sie sich vor den verzerrten Mund.

Die Frau empfindet offensichtlich Ekel. Ihr Gesicht nimmt jene universellen Züge an, die alle Menschen auf der Welt zeigen, wenn dieses Gefühl sie übermannt. Aber bitte, ist es nicht einfach nur albern und harmlos, wenn erwachsene Männer ihre Genitalien mit Farbe bekleckern? Wie kann so ein Bild bei einem Menschen Ekel auslösen?

Es kann, denn dieses heftige Gefühl, das den Menschen vor Urzeiten lediglich vor verdorbenen Speisen schützte, verfügt über eine starke soziale Komponente: Ekelgefühle verraten, wovor sich eine Gesellschaft fürchtet, was ihr suspekt ist, fremd erscheint und wogegen sich ihre Mitglieder abgrenzen möchten.

Die meisten Passanten auf dem Münchner Marienplatz reagieren höchstens mit einem Grinsen auf das Foto, für Touristen von der arabischen Halbinsel stellt es wahrscheinlich den Bruch eines starken Tabus dar. Und das moralische Empfinden von Menschen ist eng mit Ekelgefühlen verknüpft. Diesen bisweilen etwas diffusen Aspekt des sonst so klaren und heftigen Gefühls Ekel beginnen Wissenschaftler immer besser zu verstehen.

Sensorium für gefährliche Nahrung

Ekel übt in seiner Grundform eine Schutzfunktion aus. Der Psychologe Paul Rozin von der Universität Pennsylvania hat den Ursprung dieses Gefühls einmal als das "Allesfresser-Dilemma" bezeichnet. Menschen können sich von vielen Dingen ernähren. Das machte unsere Spezies einst flexibel, setzte sie aber auch Gefahren aus, denn unbekannte Speisen können giftig sein.

Der Mensch entwickelte ein Sensorium für gefährliche Nahrung - man nennt es Ekel, in seiner reinen Form "archaischen Ekel", sagt Uwe Gieler, Psychosomatiker und Emotionsforscher an der Universität Gießen. Dieser Abscheu richtet sich quer durch alle Kulturen vor allem gegen organische Dinge wie etwa Blut, Kot oder Kadaver.

Nur im Detail unterscheiden sich die Reaktionen von Menschen unterschiedlicher Herkunft auf manche Ekel-Stimuli: Während Europäer zum Beispiel Käse schätzen, würgen viele Asiaten, wenn sie nur an dieses verschimmelte Drüsensekret eines vierbeinigen Säugetiers denken müssen.

In seiner archaischen Form ist Ekel angeboren oder zumindest "in einer gewissen Grundveranlagung vorhanden", sagt Gieler. Schon bald entscheidet die kulturelle Prägung darüber, was als eklig empfunden wird. Kleine Kinder lernen erst im Alter von drei bis fünf Jahren sich zum Beispiel vor den eigenen Ausscheidungen zu grausen.

Der Psychologe James Russell vom Boston College zeigte kürzlich, dass Kinder auch erst in einem Alter von fünf Jahren an in der Lage sind, von Ekel verzerrte Gesichter zu erkennen - lange nachdem sie Furcht oder Wut in den Zügen anderer Menschen identifizieren. Als Erwachsene haben sie dann das ganze Ekelrepertoire gelernt und grausen sich vor den Dingen, die in ihrer Gesellschaft als eklig gelten.

Ekel stellt eine Abwehrreaktion dar, die sich als spontanes und besonders heftiges "Nein" interpretieren lässt, über das der Mensch aber keine bewusste Verfügungsgewalt ausüben kann. Löst ein Reiz das Ekelprogramm des Körpers aus, lässt sich dieses nicht mehr stoppen.

Diese physiologischen Folgen haben sich im Laufe der menschlichen Entwicklungsgeschichte kaum verändert. Noch immer würgen Menschen, wenn ihnen der Geruch von Erbrochenem in die Nase zieht, sie rümpfen die Nase, wenn ihre Milch verdorben ist oder verziehen den Mund, wenn sie ein Kunstwerk betrachten, für das der Künstler Blut und Sperma zwischen Glasscheiben arrangiert hat.

Aber Auslöser und Bedeutung von Ekelgefühlen haben sich weiter entwickelt. Die Ekelzone hat sich ausgeweitet und verfügt längst über "einen großen sozio-kulturellen Anteil", sagt Gieler. Das Gefühl fungiert als Maßeinheit für den moralischen Wert des Handelns der Mitmenschen: Ekelgefühle dienen auch der psychischen Abgrenzung von Dingen, die allenfalls eine symbolische Bedrohung darstellen.

Moralischer Ekel sei eine evolutionäre Weiterentwicklung des archaischen Nahrungsprüfungsprogramms, spekulierten Paul Rozin und der Psychologe Jonathan Haidt von der University of Virginia kürzlich im Fachmagazin Science. Zunächst übertrugen Menschen Ekelgefühle auf objektiv harmlose Dinge: Das Äußere entscheidet nun mitunter über das Ekelpotential eines Objekts.

So schaudern Menschen, wenn Schokoladenpudding in der Form eines Haufens Hundekot serviert wird, sie weigern sich Apfelsaft aus einer frischen, niemals benutzten Urinflasche aus dem Krankenhaus zu trinken, und kaum jemand möchte den gereinigten Pullover eines verurteilten Sexualverbrechers anziehen. Die bloße Nähe zu grausigen Dingen kontaminiert diese Gegenstände - davon grenzen sich Menschen mit Ekel ab.

Indem sich auch bloße Gedanken und Ansichten mit diesem Gefühl der Ablehnung verknüpften, schreiben Rozin und Haidt, kommunizierten Gemeinschaften, was sie für schlecht hielten und entwickelten Regeln im Umgang mit diesen Dingen. Ekel hatte seine soziale und moralische Dimension erlangt - und zwar gründlich:

Als der Psychologe Haidt einmal Probanden aus Japan und den USA bat, ekelhafte Dinge aufzulisten, beschrieben die Befragten in der Mehrzahl moralische Verfehlungen wie etwa sexuelle Übergriffe statt vergammelte Lebensmittel oder Körperflüssigkeiten.

Alle Gesellschaften tabuisierten Vorgänge, die den Menschen an seine tierische Herkunft erinnern - besonders Sex und Verdauungsvorgänge. Ekel half auszublenden, dass auch unsere Spezies aus blutigem Gewebe besteht, verfällt, verfault und übelriechende Substanzen ausscheidet.

Das illustrieren Ekelforscher gerne mit einer Anekdote des Sittenwächters Cotton Mather. Der Puritaner war einer der strengsten Frömmler Neuenglands während des frühen 18. Jahrhunderts. In seinem Tagebuch berichtet er von einer Begegnung: Während er urinierte, erblickte er einen pissenden Köter. Die Beobachtung ließ den frommen Mann erschauern, es schockierte ihn, dass er seiner Körperfunktion machtlos nachgeben musste und in diesem Akt der tierischen Kreatur gleich wurde.

"Trotzdem werde ich ein edleres Wesen sein", notierte er trotzig, "denn in dem gleichen Moment, in dem mich meine natürlichen Bedürfnisse in den Zustand eines Tieres degradieren, soll mein Geist herausragen und sich erheben."

Wer ekelsensibel ist, vertritt eher konservative Ansichten

Das Gefühl sorgt dafür, dass Menschen das ablehnen, was ihren Status als menschliche Wesen bedroht und wovon sie glauben, dass es ihren Körper oder Geist kontaminiert. Besonders stark richtet sich moralisierender Ekel gegen sexuelle Praktiken, die der sozialen Norm widersprechen und in den Augen vieler in die Nähe zum Tier rücken.

Nun wird es etwas kompliziert, denn dieser moralische Ekel ist eine selbstverstärkende Emotion: Wer besonders konservative Einstellungen vertritt, ekelt sich eher vor ungewöhnlichem sexuellen Verhalten. Und wer wiederum besonders ekelsensibel ist, der vertritt mit höherer Wahrscheinlichkeit konservative Ansichten und lehnt zum Beispiel die Homosexuellen-Ehe eher ab, wie der Psychologe David Pizarro von der Cornell University im Fachmagazin Emotion & Cognition zeigte.

So ist es wahrscheinlich, dass Menschen aus dem arabischen Raum, in dem eine konservative Sexualmoral verbreitet ist, auf einen entblößten Penis an einem Stand homosexueller Männer mit Ekel reagieren.

Auch Psychologen um Elizabeth Horberg von der University of California in Berkeley berichteten kürzlich im Journal of Personality and Social Psychology von einem Zusammenhang zwischen dem Gefühl und moralischen Urteilen. Die Wissenschaftler ließen ihre Probanden kurze Schilderungen lesen. In einer ging es zum Beispiel darum, dass ein Mann sich ein totes Huhn kauft, sich mit dem Tier selbst befriedigt, um es anschließend zu kochen und zu essen.

Dann ermittelten die Forscher, wie sehr es die Probanden ekelte und wie sehr sie dieses Verhalten verurteilten. Beides stand in einem deutlichen Zusammenhang. Außerdem zeigten Probanden mit konservativen Einstellungen sowohl heftigeren Ekel als auch stärke Ablehnung.

Emotionen wie Ekel trügen maßgeblich zu blitzartigen Entscheidungen darüber bei, was als richtig oder falsch bewertet wird und was moralisch zu achten oder zu verurteilen sei, argumentieren die Wissenschaftler. Das zeigten auch Julie Fitness und Andrew Jones von der australischen Macquarie University im Fachjournal Emotion.

Ihre Probanden sollten in einer Simulation über einen Angeklagten richten. Probanden, bei denen beiden Psychologen zuvor Ekelgefühle ausgelöst hatten, neigten zu besonders harschen moralischen Urteilen. Und wer sich in einem Test als besonders ekelsensibel erwies, neigte dazu, einen Verdächtigen bei unklarer Beweislage schuldig zu sprechen und ihm eine empfindlichere Strafe aufzubrummen.

Umgekehrt werden in Gesellschaften Dinge erst mit Ekel verknüpft, wenn diese als moralisch verwerflich gelten. Konkret werden diese Vorstellungen durch Erkenntnisse, die abermals der Ekelforscher Paul Rozin beisteuert.

Demnach empfinden Vegetarier eher heftigen Ekel gegenüber Fleisch, wenn sie sich aus moralischen und nicht gesundheitlichen Gründen dessen Verzehr ablehnen. Andere Studien zeigen, dass die zunehmende gesellschaftliche Ächtung des Rauchens in vielen Ländern Ekel gegenüber dieser Sucht wachsen lassen.

Das Gefühl Ekel mischt in vielen Bereichen des Lebens mit. Es verbindet die Sphäre grässlicher Gerüche und verfaulten Fleisches mit dem scheinbar so fernen Bereich moralischer Empfindungen.Die letzten Sätze gehören abermals dem Psychologen Paul Rozin, der diesen Zusammenhang in Worte gefasst hat:

"Menschen vieler Kulturen und verschiedener Sprachen zeigen ähnliche emotionale Reaktion auf Hundekot und schmierige Politiker."

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Quelle:
SZ vom 23.07.2010/cosa/mcs
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