Gemischte Gefühle:Die Triebkräfte des Lebens

Gefühle wie Freude oder Angst sind gut erforscht. Doch was ist mit Sehnsucht, Langeweile, Eifersucht oder Stolz? Die SZ-Serie "Gemischte Gefühle" erklärt, warum sich die Wissenschaft mit dem ganzen Kosmos der menschlichen Gefühle beschäftigen sollte.

Christian Weber

Stimmt schon: Als vor Jahrmillionen zum ersten Mal etwas empfunden wurde auf der Oberfläche dieses Planeten, handelte es sich wahrscheinlich um sehr große Gefühle: "Zu ihnen gehörten sicherlich die Urformen von Angst und Lust", spekulierte vor kurzem der Neurowissenschaftler Jaak Panksepp von der Washington State University.

Masken

Masken Eine lachende und eine wütende Maske.

(Foto: iStockphoto)

"Kurz darauf folgten möglicherweise das Begehren und die Verzweiflung." Obwohl sich seitdem sich der Kanon der Gefühle weit aufgefächtert hat, verhalten sich die meisten Forscher so, als ob die Menschen immer noch allein mit den uralten Gefühlen eines Reptiliengehirns ausgestattet wären.

Wut, Ekel, Angst, Freude, Traurigkeit und Überraschung definierte etwa der berühmte US-Psychologe Paul Ekman als Basisemotionen, andere Autoren nennen meist ein paar Begriffe mehr wie die Neugier.

Die Breite des Katalogs hängt nicht zuletzt davon ab, wie man Emotionen, Gefühle, Stimmungen, Empfindungen sowie ihre Nachbarwörter und Synonyme versteht und voneinander abgrenzt - die Diskussion füllt Bibliotheken. Ekmans Ansatz war besonders einflussreich, weil er Anfang der 1970er-Jahre auf Papua-Neuguinea nachweisen konnte, dass die Ureinwohner ihre Emotionen mit ähnlicher Mimik ausdrücken wie Amerikaner und Europäer.

Daraus schlossen er und die meisten seiner Fachkollegen, dass es sich bei den Basisemotionen um Universalien handeln müsse, die sich bei allen Menschen gleichen.

Diese Idee passte gut zu den damals aufstrebenden Disziplinen der Soziobiologie und der evolutionären Psychologie, weil sich bei diesen Basisemotionen leicht der adaptive Vorteil erkennen lässt: Die Angst bewahrt Lebewesen davor, von anderen Lebewesen gegessen zu werden, die sexuelle Lust befördert die Fortpflanzung.

Die Neugier führt Tiere und Menschen in bessere Lebensräume. Der Ekel bewahrt vor dem Verzehr verdorbener Nahrung. Endlich waren die Emotionen - so wie bereits von Charles Darwin prognostiziert - in die Theorie der Evolution integriert. Noch Fragen?

Spätestens zur Jahrtausendwende waren die Emotionen und die Gefühle damit zum großen Thema auch der akademischen Psychologie geworden. Endgültig im Aus befanden sich die Behavioristen der Nachkriegsjahre, die das Gehirn als Blackbox weitgehend ignoriert hatten, sich weder für Gedanken noch Gefühle interessierten und nur das Verhalten der Menschen beobachteten.

Hirnscanner reichen nicht

Erkannt hatte man zudem, dass es nicht genügt, mit Hilfe der neu entwickelten Hirnscanner zu erforschen, wie Menschen denken, lernen und sich erinnern: Nach der kognitiven folgte die emotionale Wende.

Vor allem der kalifornische Neurologe Antonio Damasio überzeugte die interessierte Öffentlichkeit mit seinen Fallgeschichten und Experimenten. Sie legten nahe, dass Emotionen nicht nur irrelevante oder gar störende Begleitmusik des menschlichen Handelns und Denkens sind, sondern deren Triebkräfte: Patienten, bei denen die emotionalen Zentren des Gehirns zerstört sind, können sich schlicht nicht mehr entscheiden. Sie werden lebensunfähig.

Heute ist unbestritten, dass bei jeder Entscheidung Verstand und Gefühl in komplexer Weise in Wechselwirkung stehen. Diese Botschaft ist mittlerweile sogar in der Volkswirtschaftslehre angekommen, seitdem Neuroökonomen belegt haben, dass die Vorstellung des rationalen, seinen Nutzen maximierenden Homo oeconomicus eine nur begrenzt taugliche Denkfigur ist.

Und trotzdem steht die Emotionsforschung in mancher Hinsicht noch ganz am Anfang. Ihre Schwäche ist, dass sie sich bislang primär mit den basalen Emotionen beschäftigt hat. Das hat auch forschungspragmatische Gründe: Wut und Freude produzieren einen eindeutigen mimischen Ausdruck, lassen sich physiologisch leicht identifizieren.

Basisemotionen lassen sich verhältnismäßig leicht definieren und voneinander abgrenzen. Vor allem die Angst kann man im Labor gut messen. In ihren pathologischen Formen stehen diese eindeutigen Gefühle hinter den großen psychischen Volkskrankheiten wie Angststörungen und Depressionen.

Ihre biologischen Wurzeln sind so offenkundig, dass sich für manche von ihnen sogar Tiermodelle finden: Von der Angst der Ratten kann man auf die der Menschen schließen. Das ist gut so, wenn man Medikamente entwickeln will.

Nun ist der Mensch aber keine Ratte. Wer als Emotionspsychologe nicht nur die gelehrten Studien in den Fachzeitschriften rezipiert, sondern auch mal einen Roman liest, ins Kino geht oder womöglich sogar selber ein Leben mit Sozialkontakten führt, der sollte wissen, dass die Welt der Gefühle ein Kosmos ist:

Grün vor Neid, durstig nach Rache

Menschen haben Sehnsucht nach der Ferne, der Heimat oder der verlorenen großen Liebe. Sie fühlen Stolz auf ihre Kinder, Geborgenheit in der Familie, Erhabenheit beim Blick in den Sternenhimmel, Ehrfurcht beim Betreten einer gotischen Kathedrale, da mögen sie noch so agnostisch denken.

Manchmal versinken Menschen vor Scham, ergrünen vor Neid oder dürsten nach Rache. Sie empfinden aufrichtige Reue, Mitleid oder klammheimliche Schadenfreude. Sie leiden unter Einsamkeit. Dann legen sie sich diese ganz spezielle CD auf, blättern im Fotoalbum und schwelgen in Nostalgie oder versinken in Melancholie.

Menschen fühlen sich gedemütigt. Sie sind unendlich gelangweilt, äußerst ungeduldig in der Schlange am Supermarkt, gelegentlich wollüstig, eifersüchtig, krank vor Liebeskummer - oder einfach nur völlig verwirrt.

Hier geht es um Empfindungen, die ähnlich stark sein können wie die Basisemotionen, die aber nicht so leicht zu fassen sind. Es sind diese Emotionen - nennen wir sie: gemischte Gefühle - die den Reichtum und die Vielfalt des Lebens ausmachen.

Gemessen daran haben sich die Wissenschaftler außerhalb der Geisteswissenschaften bislang erstaunlich wenig mit ihnen beschäftigt. "Es sind halt komplexe psychische Phänomene, die sowohl theoretisch als auch empirisch nur schwer in den Griff zu bekommen sind", sagt die Psychologin Alexandra Freund von der Universität Zürich, die sich gemeinsam mit dem mittlerweile verstorbenen Lebenslaufforscher Paul Baltes vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung mit der Sehnsucht beschäftigt hat (siehe Artikel links).

Es seien übergreifende Konzepte, für die sich in einer ausdifferenzierten Wissenschaft niemand so recht zuständig fühle und an die sich keiner herantraue, schon gar nicht junge Wissenschaftler, die möglichst schnell mit guten Publikationen punkten müssen. "Man muss vielleicht in ein paar Sackgassen gehen, dann wieder zurück und noch mal neu anfangen - welcher Nachwuchswissenschaftler kann sich das schon erlauben?"

Wie gut, dass sich dennoch die ersten Wissenschaftler an diese komplexen Emotionen heranwagen. Über ihre Erkenntnisse wird die Süddeutsche Zeitung in der Serie "Gemischte Gefühle" in den kommenden Monaten berichten.

Sollte man seine Gefühle nehmen, wie sie kommen?

Zahlreiche Fragen werden zu klären sein, die hier noch deutlicher auftreten als bei den Basisemotionen: Laufen Emotionen als weitgehend automatische Affektprogramme ab oder starten sie erst nach einer gedanklichen Abwägung? Angst vor dem Examen hat nur, wer das Konzept Prüfung kennt, aber muss man das Konzept Kampfhund erlernen, um sich vor einem zähnefletschenden Pitbull zu fürchten?

Sollte man seine Gefühle nehmen, wie sie kommen, oder ist es angebracht, sie zu regulieren - sei es mit Medikamenten oder Meditation? Welche Rolle spielt die Biologie, welche die Kultur? Ist etwa das Schamgefühl angeboren oder belegen die Nackerten im Englischen Garten, dass einige Jahrzehnte FKK-Liegewiese das Empfinden der Menschen verändern?

Tatsächlich erforschen mittlerweile auch Historiker, Philosophen, Gesellschafts- und Kulturwissenschaftler die Geschichte der Gefühle. Ute Frevert etwa geht mit ihrer Arbeitsgruppe am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung der Frage nach, inwiefern Gefühle und Empfindungen kulturell geformt und erlernt werden:

War die Vaterliebe im 19. Jahrhundert etwas anderes als heute? Haben sich nur die Anlässe für bestimmte Gefühle geändert oder betrifft das auch ihr subjektives Erleben? Hat sich die Liebe im Mittelalter anders angefühlt als heute?

Und überhaupt: Finden Gefühle nur im Kopf des Einzelnen statt oder gibt es so etwas wie kollektive oder nationale Gefühle auch außerhalb von Fußball-Weltmeisterschaften? Sozialwissenschaftler beginnen, sich für das Thema zu interessieren. Der französische Politologe Dominique Moisi etwa hat in seinem Buch "Kampf der Emotionen" versucht zu ergründen, wie nationale Gefühlslagen die Weltpolitik prägen.

Er konstatiert in Europa und Amerika die allgemeine Angst vor dem Abstieg, während im von Indien und China dominierten Asien Hoffnung herrsche und Menschen in arabisch-islamischen Gesellschaften sich gedemütigt fühlten. Wer wissen will, wie es weitergeht auf der Welt, müsste sich auch mit diesen psychischen Dimensionen beschäftigen, so seine These.

Nicht zuletzt versprechen auch die Neurowissenschaften, zur Klärung dieser Fragen beizutragen, sie werden in Zukunft in der Emotionsforschung eine wichtige Rolle spielen. So hat etwa die Entdeckung der Spiegelneuronen das Interesse an dem früher wenig beachteten Gefühl der Empathie deutlich gesteigert. Die Wissenschaft hat verdeutlicht, dass der Mensch sich am Ende nur verstehen wird, wenn er sein Gehirn begreift.

"Wo können wir die menschliche Seele finden?" fragt daher der Neurowissenschaftler Jaak Panksepp. "Im Himmel? Unwahrscheinlich. In den höheren Regionen unseres Gehirns? Vielleicht."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: