Hirnforschung:Solln und Sühne

Schläger wie die von Solln werden trotz psychischer Störungen für ihre brutale Tat verantwortlich gemacht. Doch manche Hirnforscher und auch Juristen bezweifeln, dass das richtig ist. Brauchen wir ein neues Strafrecht?

Markus C. Schulte von Drach

Jedes Mal, wenn ein furchtbares Verbrechen geschehen ist, stellt man sich die Frage nach dem Warum. Wieso haben die Schläger von Solln ihr Opfer Dominik Brunner angegriffen und so lange geschlagen und getreten, bis der Mann tot war? Warum haben sie sich nicht besonnen, sich bewusst gemacht, wie böse ihre Tat ist - und aufgehört?

Vor Gericht wird immer wieder eine weitere Frage gestellt, die den Opfern, den Angehörigen und überhaupt den meisten Menschen wie eine Provokation erscheinen muss: Konnten die Täter nicht anders? Gerade wenn es um Verbrechen geht, die starke Emotionen auslösen - dazu gehören zum Beispiel auch Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen - fällt es schwer zu akzeptieren, dass diese Frage - die Frage nach der Schuldfähigkeit - vor Gericht diskutiert wird.

Auch den beiden brutalen U-Bahn-Schlägern von München, die 2007 einem Rentner lebensgefährliche Kopfverletzungen zugefügt hatten, wurde diese Frage gestellt - und wie in den allermeisten Fällen mit ja beantwortet. Die jungen Männer wurden zu langen Haftstrafen verurteilt - wegen ihrer "erbarmungslosen, an roher Gesinnung nicht zu übertreffenden Attacke", wie der Richter erklärte.

Trrauer um Dominik Brunner

Trauer um Dominik Brunner. Kann man die Schläger von Solln für seine brutale Tötung verantwortlich machen?

(Foto: Reuters)

Doch gerade solche Fälle "roher Gesinnung" belegen, wie problematisch der Umgang mit Straftätern im Wechselspiel zwischen Gesetz, Schuld, Strafe, Verantwortung und wissenschaftlicher Erkenntnis ist.

"Keine tiefgreifenden Störungen"

Deutschlands Strafgesetzbuch (§§ 20, 21) geht davon aus, dass manche Täter "wegen einer krankhaften seelischen Störung" oder einer "schweren anderen seelischen Abartigkeit" unfähig sind, "das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln" - sie sind rechtlich gesehen ohne Schuld oder vermindert schuldfähig.

Das klingt in den Ohren mancher Bürger, als wolle man gerade besonders brutale Verbrechen entschuldigen oder den Täter gar in Schutz nehmen. Doch das ist ein Irrtum. Gilt ein solcher Täter als Gefahr für die Allgemeinheit, so kann er gemäß § 63 zum Maßregelvollzug in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen werden. Und dort bleibt er bis Gutachter zu der Überzeugung kommen, dass er harmlos ist.

Doch in den meisten Fällen wird von vorneherein keine verminderte Schuldfähigkeit oder gar Schuldunfähigkeit festgestellt. So wurden auch die beiden U-Bahn-Schläger für voll schuldfähig erklärt, weil laut psychologischen Gutachten "keine tiefgreifenden psychiatrischen Störungen" vorlagen.

Allerdings beobachteten die Experten Eigenschaften wie eine weitgehend verfestigte dissoziale Persönlichkeit, festgefahrene Neigungen zu delinquenten Handlungen, Entwicklungsstörungen, Alkohol- und Drogenprobleme, Ich-Bezogenheit, Impulsivität, Probleme, Regeln zu akzeptieren, Mangel an Interesse und Verständnis für andere Menschen, schwache soziale Intelligenz sowie ungehemmte, jähzornige Aggression insbesondere in Konfliktsituationen. Selbst die Anklage gab zu, die katastrophalen Umstände ihrer Jugend kämen strafmildernd in Betracht.

Wie dissoziale Persönlichkeitsstörungen entstehen, lesen Sie auf Seite 2.

Fehlinterpretation führt zur Überreaktion

Es zeichnet sich ab, dass die Schläger von Solln durch entsprechende negative Charaktereigenschaften und soziale Schwächen gezeichnet sind, die mit einer ähnlich problematischen Sozialisation zusammenhängen. Seit Jahren sind Markus Sch. und Sebastian L. aufgefallen: durch Erpressung, Diebstahl, Körperverletzung und Drogenbesitz.

Gerhard Roth, Getty Images

Hirnforscher Gerhard Roth stellt die Schuldfrage neu - und fordert eine Änderung des Strafrechts.

(Foto: Getty Images)

Ihr soziales Umfeld war in einem katastrophalen Zustand. Ihre Geschichte und ihre Tat sprechen deutlich dafür, dass sie zu den 7,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen gehören, die unter behandlungsbedürftigen "Störungen des Sozialverhaltens" leiden. Und sie gehören offensichtlich zu den zwei Prozent, die sich längerfristig zu gewalttätigen Intensivtätern entwickeln.

Völlig überraschend kommt das aggressive Verhalten in der Regel nicht, meist zeichnen sich die psychischen Störungen bereits im Vor- und Grundschulalter durch Symptome wie hohe Impulsivität, Aggressivität und Auffsässigkeit ab, wie internationale Studien in den vergangenen 20 Jahren gezeigt haben. Die Experten gehen davon aus, dass dahinter ein unglückliches Zusammenspiel von genetischen Faktoren mit einem nachteiligen sozialen Umfeld steckt.

"Viele dieser Kinder wachsen in Familien auf, in denen Gewalt und Misshandlungen an der Tagesordnung sind und in denen die Eltern keine stabile emotionale Bindung zum Nachwuchs aufbauen können", sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Gerd Lehmkuhl von der Universität Köln. Mangelnde soziale Unterstützung, Stress, Alkoholismus der Eltern und eine inkonsequente, launische Erziehung, die die Gefühle des Kindes vernachlässigt, kommen oft hinzu.

Die Kleinen erleben Ablehnung und Frustration. Gewalt und Vernachlässigung wirken sich negativ auf die Entwicklung des Gehirns aus. Schließlich interpretieren die Kinder ihre Umwelt überwiegend als feindselig.

Keine moralische Bremse

Wie Studien zeigen, schätzen aggressive Jugendliche ihre Gegner in Konfliktsituationen aggressiver ein als es ein objektiver Beobachter tut. Entsprechend übertrieben reagieren die Intensivtäter auf den Widerstand von engagierten Menschen wie Dominik Brunner, der seine Zivilcourage mit dem Leben bezahlen musste.

"Diese Jugendlichen können gar nicht richtig einordnen, was ein anderer Mensch sagt", erklärt Friedrich Lösel, Direktor des Institute of Criminology der Universität Cambridge. Lösel, der auch Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg ist, will dieses Verhalten keinesfalls entschuldigen, aber "wir müssen versuchen zu verstehen, wieso diese Verbrechen passieren."

Es ist kein großer Schritt von den behandlungsbedürftigen "Störungen des Sozialverhaltens" der Kinder zur sogenannten dissozialen Persönlichkeitsstörung, die bei vielen Schwerkriminellen und Sexualstraftätern festgestellt wird. Auch diese sind, so erklärt der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber von der Charité in Berlin, "in einer dissozialen Lebenswelt aufgewachsen, in der die entsprechenden Wertmaßstäbe vermittelt werden".

Den Betroffenen mangelt es an Empathiefähigkeit, sie zeigen kein Schuldbewusstsein und lernen nicht aus negativen Erfahrungen oder Strafen. Deshalb missachten sie häufig soziale Normen, Regeln und Verpflichtungen. Vergewaltiger und Mörder zum Beispiel haben den Beobachtungen des britischen Kriminalpsychologen David Canter von der University of Liverpool zufolge in ihrer Kindheit und Jugend keine moralische Bremse entwickelt, die sie daran hindert, ihre Lust- oder Rachegefühle mit Gewalt auszuleben.

Und was für Laien besonders irritierend ist: "Viele Psychopathen", sagt der Hirnforscher Gerhard Roth von der Universität Bremen, "zeigen ein hohes Maß an Selbstkontrolle beim Lügen und Betrügen, können Mitgefühl heucheln, ihre wahren Motive verbergen und Straftaten vertuschen."

Schon Kinder können mitbestimmen, wie sie sich entwickeln, sagen manche Experten. Mehr dazu auf Seite 3.

Entscheidung über die eigene Entwicklung

Manchmal betrachten Psychiater und Richter die dissoziale Persönlichkeitsstörung als "andere seelische Abartigkeit" nach § 20 StGB, die eine Schuldunfähigkeit begründen kann. Doch seit einigen Jahren werden die Betroffenen immer häufiger für ihre Taten verantwortlich gemacht - dann, wenn sie nicht an einer eindeutig feststellbaren hirnorganischen Störung oder einer Geisteskrankheit leiden oder während der Tat nicht die Kontrolle verloren haben, wie es etwa unter Drogeneinfluss passieren kann.

Die Hand auf der Schulter

Ihre Steuerungsfähigkeit gilt als nicht beeinträchtigt. Was Steuerungsfähigkeit meint, macht der forensische Psychiater Norbert Nedopil von der Uni München an einem einfachen Beispiel deutlich: "Was tut jemand, der einen Mord begehen will, wenn ihm ein Polizist die Hand auf die Schulter legt? Der Schizophrene, der die Stimme Gottes hört, verfügt nicht über eine ausreichende Steuerungsfähigkeit und tötet vielleicht trotzdem. Der Dissoziale tut es aber so gut wie nie."

Wenn ein solcher Mensch ein Verbrechen begeht, weil die Situation günstig ist, sei er schuldig, erklärt Henning Saß von der Psychiatrischen Uniklinik Aachen. Man müsse deshalb immer untersuchen, wie krankheitsnah die Symptome des Betroffenen sind, und wie weit er davon entfernt war, sich zurückhalten zu können.

Ähnlich sieht es Paul Hoff vom Psychiatrischen Uniklinikum Zürich: "Erst wenn zum dissozialen Verhalten weitere psychopathologische Momente wie verminderte Impulskontrolle, affektive Instabilität, labiles Selbstwertgefühl oder depressive Verstimmungen dazukommen, muss geprüft werden, ob in der Summe eine forensisch relevante Einschränkung der Steuerungsfähigkeit festzustellen ist."

Das Gesetz versuche ja gerade jene Menschen vor Strafe zu schützen, deren Einsichts- und Steuerungsfähigkeit gestört sei, stimmt die Psychiaterin Sabine Herpertz von der Universität Heidelberg zu. "Menschen mit dissozialer Persönlichkeit haben jedoch meist die Wahl."

Der Bundesgerichtshof geht sogar noch viel weiter. Er folgt der Einschätzung des früheren Leiters der Heidelberger Psychiatrischen Uniklinik, Werner Janzarik. Demnach kann sogar "die Verantwortung dafür, wie einer geworden ist, ihm nicht abgenommen werden, solange eigene Entscheidungen den Weg dahin wesentlich mitgestaltet haben".

Gerichtsgutachter Kröber sieht das genauso: "Wenn antisoziale Persönlichkeiten ebenso wie andere Menschen sozialen Einflüssen und Lernprozessen unterliegen, handeln sie in dieser Sicht als rationale und kompetente Bürger".

Dass ihre speziellen psychischen Stärken und Schwächen möglicherweise eine Neigung bedingen, rechtliche Grenzen zu überschreiten, ist in dieser Sicht nicht anders zu behandeln als die Tatsache, dass besondere Schwächen und Stärken eines Menschen ihn etwa für die Laufbahn eines Psychiaters oder Juristen prädestinieren. Die Betroffenen hätten demnach selbst eine Entscheidung gegen ein normkonformes Leben getroffen.

"Wir entwickeln eigene Präferenzen und Motive und fällen auf dieser Grundlage eigene Entscheidungen", bestätigt Henning Saß. Der Gerichtsgutachter hält schon Kinder für fähig, diese Entwicklung mitzugestalten - selbst unter den schwierigen Bedingungen einer dissozialen Lebenswelt.

"Menschen sind in der Lage, Wege zu entwickeln, um Charakterschwächen zu kompensieren", sagt auch die Psychiaterin Sabine Herpertz von der Universität Heidelberg. "Und Personen mit dissozialer Persönlichkeit sind ja meist schon als Kinder durch delinquentes Verhalten aufgefallen und haben negative Rückmeldungen erhalten. Sie haben die Verantwortung, darauf zu reagieren."

Das mag von ihnen mehr Mühe erfordern als von anderen Menschen, aber wenn ihre Denkfähigkeit nicht gestört ist, ginge das. "Heranwachsende sind sehr wohl in der Lage, sich auch gegen eine gefährdende Peergroup zu entscheiden. Wir sind keine passiven Gefäße, die nur von außen gefüllt werden."

Welche Defekte lassen sich im Gehirn nachweisen, welche nicht? Mehr dazu auf Seite 4.

Spuren im Gehirn

Hätten sich Sebastian L. und Markus Sch. also gegen ihre kriminelle Karriere entscheiden und ein sozial angepassten Leben führen können? Oder wird hier von benachteiligten, missbrauchten, misshandelten, gestörten Kindern und Jugendlichen erwartet, sich wie Baron Münchhausen selbst am Schopf aus dem Sumpf herauszuziehen?

"Manchmal lassen sich genaue Ursachen für eine Krankheit feststellen und den Betroffenen werden in der Regel schuldmindernde Umstände zugesprochen", sagt Erich Kasten, Neuropsychologe an der Universität Lübeck. "Bei manchen Menschen sind die Ursachen für ihre Störung aber nebulös-multikausal durch eine diffuse Addition genetischer Faktoren, Erziehungsproblemen oder minimalen frühkindlichen Hirnschäden bedingt. Dann wird eine dissoziale Persönlichkeitsstörung im Sinne einer rein psychischen Entgleisung diagnostiziert." Im Gegensatz zu den erkennbar neurologisch bedingten Fällen streite man hier darüber, ob diese Menschen ihr Schicksal hätten beeinflussen können.

"Da aber jedes Verhalten vom Gehirn gesteuert werde, leiden sie letztlich ebenso unter einer pathologischen Veränderung ihres Zentralnervensystems wie Patienten mit nachweisbarem neurologischen Schaden. Bei dem einen Schuldunfähigkeit zu akzeptieren, weil eine manifeste Hirnschädigung nachweisbar ist, und bei dem anderen über Erziehungsfehler zu philosophieren, nur weil derzeitige Methoden noch nicht ausreichen, die Hirnveränderung aufzuzeigen, heißt, mit zweierlei Maß zu messen", stellt Kasten fest.

Sein Fazit: "Menschen mit dissozialer Persönlichkeit können in der Regel ebenso wenig etwas dafür, dass sie so geworden sind wie Patienten mit einer unfallbedingten Hirnschädigung."

Inzwischen gibt es etliche Studien, die belegen, dass Patienten mit antisozialer Persönlichkeitsstörung deutliche Hirndefekte aufweisen. "Das gilt sowohl für reaktiv-impulsive Gewalttäter als auch für Psychopathen mit proaktiv-instrumentellem Gewaltverhalten - also solchen, die die geltenden Normen kennen und trotzdem Straftaten planen und ausführen", stellt Gerhard Roth von der Universität Bremen fest. "Ihre Defizite gehen einher mit erkennbaren Abweichungen in bestimmten Hirnarealen, z.B. dem unteren Stirnhirn."

Den meisten Richtern genügen diese Erkenntnisse nicht, um am Sinn der Paragraphen 20 und 21 zu zweifeln. Für Roth dagegen verstößt das Vorgehen der Gerichte gegen den Grundsatz in dubio pro reo. "Die Erkenntnisse der Hirnforschung reichen bei weitem aus, um Zweifel an der strafrechtlichen Schuld dieser Täter zu begründen."

Warum Hirnforscher Roth das Schuldprinzip im Strafrecht abschaffen will, lesen Sie auf Seite 5.

Strafrecht ohne Schuldprinzip

Doch Roths Kritik richtet sich nicht nur gegen die Anwendung dieser Paragraphen - seine Forderungen gehen erheblich weiter. Seiner Meinung nach sollte das Strafrechtssystem grundsätzlich auf das traditionelle Schuldprinzip verzichten. Denn dieses mache nur Sinn, wenn Menschen über einen freien Willen im Sinne einer rein moralischen Entscheidungsfähigkeit verfügen.

Diese Freiheit aber wird von manchen Philosophen und Wissenschaftlern in Frage gestellt. So kann es, wenn keine äußeren Zwänge herrschen, theoretisch immer die Möglichkeit geben, aus mehreren Verhaltensalternativen zu wählen. Praktisch aber stehen Entscheidungen immer am Ende einer langen Kette von Ereignissen und aufeinanderfolgenden hirnphysiologischen Zuständen, die unseren subjektiven Motiven zugrunde liegen.

Man stelle sich den Augenblick vor, wo das Gehirn einer gestörten Persönlichkeit das Für und Wider eines Verbrechens abwägt. Alle verfügbaren Argumente werden durchdacht, dann senkt sich die Waagschale in Richtung Straftat. Sollte es einen freien Willen geben, auf dem das Konzept der Schuldfähigkeit beruht, müsste jetzt ein neuer Faktor auftreten können, der die Schale unabhängig von den Argumenten und Motiven wieder hebt. Auf die Frage, woher ein solcher Faktor kommen sollte, hat allerdings noch niemand eine Antwort gefunden.

"Aus psychologischer Sicht kann man uns eine Handlung nur dann als unser Handeln zuschreiben, wenn es von unseren Motiven bestimmt wird", so Roth. In der Strafrechtstheorie werde aber das genaue Gegenteil als Grundlage für Willensfreiheit angesehen: die Fähigkeit, sich von der Bedingtheit durch Motive zu befreien.

Unterstellt wird seit Kants Vorstellung eines inneren Sittengesetzes, dass grundsätzlich alle Menschen motiviert sein müssten, moralisch-rechtstreu zu handeln oder Strafe zu vermeiden. Allerdings hatte Kant die Frage nach Sittlichkeit, Schuld und Gewissen in die Metaphysik verlagert.

"Unser Rechtsgewissen ist aber das Produkt unserer Erziehung oder Lebenserfahrung und unterliegt wie alle Motive der Persönlichkeitsentwicklung", sagt Roth. "Ich kann mich nicht außerhalb meiner Persönlichkeit und ihrer Geschichte stellen."

Ähnlich sehen es auch Wissenschaftler wie der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer und der Leipziger Kognitionswissenschaftler Wolfgang Prinz, aber auch bekannte Philosophen wie der Amerikaner Daniel Dennett oder sogar Arthur Schopenhauer.

Es wäre demnach an der Zeit, sich von Begriffen wie Schuld und Sühne zu lösen und sich von der Vorstellung von Gut und Böse an sich zu verabschieden, wie es unter anderen der Philosoph Michael Schmidt-Salomon energisch fordert. Wie aber könnte ein solches Strafrechtssystem ohne Schuldprinzip aussehen?

Zusammen mit der Rechtswissenschaftlerin Grischa Merkel von der Universität Rostock hat Roth dazu kürzlich ein Modell entworfen. Zuerst einmal würde man demnach auf Vergeltung verzichten - laut Bundesverfassungsgericht eines der Ziele von Strafe. Es blieben die Ziele der Schadenskompensation, der Behebung der sozialen Störung, der Abschreckung und der Aufrechterhaltung der Norm.

Und auch ohne Berücksichtigung einer Schuld ließe sich der § 46 StGB anwenden, mit dem bereits jetzt die Höhe einer Strafe abgewogen wird. Umstände, die dabei berücksichtigt werden, sind unter anderem die Beweggründe und Ziele des Täters (Eigennutz oder zum Wohle anderer), das Maß der Pflichtwidrigkeit (Fahrlässigkeit oder Vorsatz) und seine Bemühungen, den Schaden wiedergutzumachen.

"Die Art und Intensität des Angriffs auf die Norm bestimmen mit, was zur Wiederherstellung der Normgeltung erforderlich ist", erklärt Roth. "Ob ein Täter determiniert gehandelt hat oder nicht, ist dabei nicht relevant."

Wie ein neues Strafrecht aussehen könnte, lesen Sie auf Seite 6.

Klassische Strafe oder Therapie

Eines aber sollte ganz anders sein im neuen Strafrechtssystem. "Jedem Täter müsste angeboten werden, eine Therapie zu machen, statt sich der klassischen Bestrafung, der Geld- oder Freiheitsstrafe, auszusetzen", stellt Rechtswissenschaftlerin Grischa Merkel fest. Dabei dürfe man sich nicht der Illusionen hingeben, eine solche Behandlung sei einfach.

"In Wahrheit verlangt eine Therapie vom Täter viel mehr als der Aufenthalt in einem Gefängnis", sagt Roth. "Die Persönlichkeitsänderung, die dabei stattfinden muss, kann ein sehr schmerzhafter Prozess sein, weil vom Täter verlangt wird zu begreifen, was er dem Opfer an Verletzungen zugefügt hat."

Sind Täter jedoch, wie es Roth annimmt, determiniert, so ist diese Entscheidung natürlich nicht das Ergebnis einer freien Wahl. Allerdings würde dem Täter immerhin ein Handlungsspielraum eröffnet, den das gegenwärtige Rechtssystem nicht bietet.

Therapie nicht aufzwingen

Was aber, wenn ein Verbrecher die Tragweite und Bedeutung dessen gar nicht versteht, worüber er entscheidet? Hier könnte laut Roth und Merkel ein Paragraph greifen, der dem existierenden § 20 StGB entspräche, jedoch nicht die Frage nach Schuldfähigkeit stellen würde, sondern danach, ob ein Straftäter die Fähigkeit besitzt, Normen zu verstehen und sein Leben grundsätzlich danach auszurichten.

Ist dies nicht der Fall, könnte den Betroffenen die Wahlmöglichkeit nicht eingeräumt werden. Damit würde die Legitimation für die herkömmliche Strafsanktion entfallen. Diese Menschen, so Roth und Merkel, wären "in absolut unausweichlichen Fällen" zur Sicherung in einem psychiatrischen Krankenhaus unterzubringen - unter größtmöglicher Berücksichtigung ihrer eigenen Interessen. "Auch therapeutische Maßnahmen dürften ihnen nicht gegen ihren Willen aufgezwungen werden", sagt Merkel.

Roth hat unter Juristen bereits eine große Bereitschaft festgestellt, über das neue Modell zu diskutieren. Psychaterin Sabine Herpertz allerdings bleibt dabei, dass Straftäter, die nicht krank sind, für ihr Handeln verantwortlich und deshalb schuldig sind.

Und für Gerichtsgutachter Hans-Ludwig Kröber war bereits die Einführung der verminderten Schuldfähigkeit, des Maßregelsystems und der Sicherungsverwahrung nur "der Versuch, Wiederholungstäter aus der Gesellschaft zu entfernen, in der optimistischen Überzeugung, man könne das System der Strafverfolgung durch ein soziales System der Straftatverhinderung ersetzen."

Man betreibe "Geisterbeschwörung, wenn man glaube, das Allheilmittel sei Therapie", so Kröber. "In Wahrheit lässt die trotz Therapie keiner mehr raus. Man möchte bloß die angestrebte lebenslange Sicherungsverwahrung kaschieren, indem man das Ganze in ein Krankenhaus verlegt."

Roth und Merkel hoffen trotzdem auf bessere Behandlungsmethoden in der Zukunft, so dass sich ihr Modell realisieren lässt. Und ob es geeignete Therapiemöglichkeiten für Straftäter gibt oder nicht, sagt ja überhaupt nichts darüber aus, ob wir tatsächlich einen freien Willen besitzen. Ist dieser jedoch nur eine Illusion, dann ist Schuld nur ein Mythos.

Und um furchtbare Verbrechen wie das an Dominik Brunner in Zukunft zu verhindern, sind Präventionsprogramme für Kinder besser geeignet als Schuld und Sühne. Die Konzepte gibt es, sie müssten nur umgesetzt werden. Dafür aber fehlt in unserer Gesellschaft noch immer das Geld.

Mit den Themen Verbrechen, Schuld und Willensfreiheit hat sich Autor Markus C. Schulte von Drach auch in seinem Roman "Der fremde Wille" (Kiepenheuer & Witsch 2009) beschäftigt.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: