Hirnforschung:Fehlinterpretation führt zur Überreaktion

Es zeichnet sich ab, dass die Schläger von Solln durch entsprechende negative Charaktereigenschaften und soziale Schwächen gezeichnet sind, die mit einer ähnlich problematischen Sozialisation zusammenhängen. Seit Jahren sind Markus Sch. und Sebastian L. aufgefallen: durch Erpressung, Diebstahl, Körperverletzung und Drogenbesitz.

Gerhard Roth, Getty Images

Hirnforscher Gerhard Roth stellt die Schuldfrage neu - und fordert eine Änderung des Strafrechts.

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Ihr soziales Umfeld war in einem katastrophalen Zustand. Ihre Geschichte und ihre Tat sprechen deutlich dafür, dass sie zu den 7,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen gehören, die unter behandlungsbedürftigen "Störungen des Sozialverhaltens" leiden. Und sie gehören offensichtlich zu den zwei Prozent, die sich längerfristig zu gewalttätigen Intensivtätern entwickeln.

Völlig überraschend kommt das aggressive Verhalten in der Regel nicht, meist zeichnen sich die psychischen Störungen bereits im Vor- und Grundschulalter durch Symptome wie hohe Impulsivität, Aggressivität und Auffsässigkeit ab, wie internationale Studien in den vergangenen 20 Jahren gezeigt haben. Die Experten gehen davon aus, dass dahinter ein unglückliches Zusammenspiel von genetischen Faktoren mit einem nachteiligen sozialen Umfeld steckt.

"Viele dieser Kinder wachsen in Familien auf, in denen Gewalt und Misshandlungen an der Tagesordnung sind und in denen die Eltern keine stabile emotionale Bindung zum Nachwuchs aufbauen können", sagt der Kinder- und Jugendpsychiater Gerd Lehmkuhl von der Universität Köln. Mangelnde soziale Unterstützung, Stress, Alkoholismus der Eltern und eine inkonsequente, launische Erziehung, die die Gefühle des Kindes vernachlässigt, kommen oft hinzu.

Die Kleinen erleben Ablehnung und Frustration. Gewalt und Vernachlässigung wirken sich negativ auf die Entwicklung des Gehirns aus. Schließlich interpretieren die Kinder ihre Umwelt überwiegend als feindselig.

Keine moralische Bremse

Wie Studien zeigen, schätzen aggressive Jugendliche ihre Gegner in Konfliktsituationen aggressiver ein als es ein objektiver Beobachter tut. Entsprechend übertrieben reagieren die Intensivtäter auf den Widerstand von engagierten Menschen wie Dominik Brunner, der seine Zivilcourage mit dem Leben bezahlen musste.

"Diese Jugendlichen können gar nicht richtig einordnen, was ein anderer Mensch sagt", erklärt Friedrich Lösel, Direktor des Institute of Criminology der Universität Cambridge. Lösel, der auch Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg ist, will dieses Verhalten keinesfalls entschuldigen, aber "wir müssen versuchen zu verstehen, wieso diese Verbrechen passieren."

Es ist kein großer Schritt von den behandlungsbedürftigen "Störungen des Sozialverhaltens" der Kinder zur sogenannten dissozialen Persönlichkeitsstörung, die bei vielen Schwerkriminellen und Sexualstraftätern festgestellt wird. Auch diese sind, so erklärt der forensische Psychiater Hans-Ludwig Kröber von der Charité in Berlin, "in einer dissozialen Lebenswelt aufgewachsen, in der die entsprechenden Wertmaßstäbe vermittelt werden".

Den Betroffenen mangelt es an Empathiefähigkeit, sie zeigen kein Schuldbewusstsein und lernen nicht aus negativen Erfahrungen oder Strafen. Deshalb missachten sie häufig soziale Normen, Regeln und Verpflichtungen. Vergewaltiger und Mörder zum Beispiel haben den Beobachtungen des britischen Kriminalpsychologen David Canter von der University of Liverpool zufolge in ihrer Kindheit und Jugend keine moralische Bremse entwickelt, die sie daran hindert, ihre Lust- oder Rachegefühle mit Gewalt auszuleben.

Und was für Laien besonders irritierend ist: "Viele Psychopathen", sagt der Hirnforscher Gerhard Roth von der Universität Bremen, "zeigen ein hohes Maß an Selbstkontrolle beim Lügen und Betrügen, können Mitgefühl heucheln, ihre wahren Motive verbergen und Straftaten vertuschen."

Schon Kinder können mitbestimmen, wie sie sich entwickeln, sagen manche Experten. Mehr dazu auf Seite 3.

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