Das Experiment erscheint gruslig: Neurobiologen berichten, dass sie erbsengroße Mini-Gehirne aus Stammzellen erschaffen haben. Die Gebilde sollen im Labor nach vier Monaten eine elektrische Aktivität gezeigt haben, die Hirnströmen frühgeborener Kinder ähnelt. Die Wissenschaftler um Alysson Muotri von der kalifornischen University of California in San Diego sehen solche Hirn-Organoide als Modelle an, mit denen beispielsweise krankhafte Fehlentwicklungen des Gehirns oder die Wirkung von Medikamenten untersucht werden können. Die Studie ist im Fachmagazin Cell Stem Cell erschienen und wird von unbeteiligten Wissenschaftlern einerseits handwerklich gelobt, andererseits bezweifeln sie die dargelegte Interpretation der Mini-Hirn-Signale.
"Das Niveau der neuronalen Aktivität, das wir sehen, ist im Labor beispiellos", wird Muotri jedoch in einer Mitteilung des Fachmagazins zitiert. Mit dem Experiment seien seine Kollegen und er einem Modell näher gekommen, das den frühen Stadien eines hoch entwickelten Nervenzell-Netzwerks entspricht. Neuronale Aktivitäten können entstehen, wenn Nervenzellen Verbindungen untereinander aufbauen.
Die Forscher züchteten die Organoide aus speziellen Stammzellen und ließen sie zehn Monate im Labor wachsen. Die Bedingungen in der Petrischale gestalteten sie dabei so, wie sie für die Entwicklung der Großhirnrinde eines menschlichen Gehirns notwendig sind. Anhand von genetischen Markern untersuchten die Wissenschaftler, welche Zelltypen in verschiedenen Stadien der heranreifenden Organoiden zu finden sind. Nach einem Monat bestanden die Zellkomplexe zu 70 Prozent aus Vorläuferzellen. Nach drei und sechs Monaten waren vor allem spezialisierte Zellen des Gehirns zu finden, wie Gliazellen und Nervenzellen. Die Forscher entdeckten auch Nervenzellen mit speziellen Rezeptoren, die im Labor zuvor noch nie erzeugt werden konnten.
Die etwa erbsengroßen Mini-Hirne wuchsen auf einer Platte mit zahlreichen Elektroden. So konnte das Team um Muotri immer wieder die elektrische Aktivität des sich entwickelnden neuronalen Netzwerks messen. Die Messdaten verglichen sie mit Messungen von Gehirnaktivitäten, die andere Forscher von frühgeborenen Kindern aufgezeichnet hatten.
Muotri und Kollegen sind sich bewusst, dass ihre Forschung auch gesellschaftliche und ethische Fragen aufwirft. Sie betonen jedoch, dass die Organoide sich in vielerlei Hinsicht vom menschlichen Gehirn unterscheiden. "Das Organoid ist immer noch ein sehr rudimentäres Modell - wir haben keine Gehirnteile und Strukturen", sagt Muotri. So fehlten etwa Blutgefäße, auch die Unterteilung in zwei Hirnhälften gebe es nicht. Er hebt vor allem die Chancen dieser Art von Forschung hervor: "Ich kann Menschen mit neurologischen Erkrankungen helfen, indem ich ihnen bessere Behandlungen und eine bessere Lebensqualität gebe." Muotri ist auch an einem Unternehmen beteiligt, das unter anderem mithilfe von Hirn-Organoiden die Therapie neurologischer Erkrankungen vorantreiben möchte.
Oliver Brüstle vom Universitätsklinikum Bonn sieht ebenfalls große Chancen in der Erforschung von Gehirn-Organoiden. Er bescheinigt der Gruppe um Muotri eine seriöse Arbeit, die technisch solide gemacht sei. Allerdings stört er sich an der Interpretation, dass die neuronale Aktivität der Zellklumpen mit der von Menschen vergleichbar sein soll: "Mit einer solchen Aussage sollte man sehr vorsichtig sein."
Auch Jürgen Knoblich vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien hält den Vergleich mit den Hirnaktivitäten von frühgeborenen Kindern für unangemessen: "Diese Interpretation geht zu weit und kann falsche Hoffnungen wecken." In der wissenschaftlichen Gemeinschaft gebe es zudem Zweifel daran, dass mit der flachen Elektrodenplatte tatsächlich Aktivitäten des gesamten Organoids gemessen wurden. Das Organoid sei jedoch ein sehr gutes Forschungsmodell, viel besser als das bisher oft verwendete Mausmodell.