Gefahr in den Alpen:Der Berg rutscht

Immer wieder zerstören Erdrutsche Häuser und Straßen in den Alpen. Und die Gefahr von Muren und stürzenden Hängen wächst. Sensoren im Untergrund können jedoch frühzeitig vor Katastrophen warnen.

Sebastian Herrmann

Die Holzfäller berichteten von seltsamen Vorgängen. Spalten taten sich auf einmal im nassen Untergrund auf, der durch die ununterbrochenen Regenfälle aufgeweicht war. Lautes Knallen hallte durch den Wald, wenn die dicken Wurzeln der Bäume nicht mehr Stand hielten und zwischen den Rissen im Boden barsten. Gegen halb fünf am Nachmittag geriet der ganze Hang plötzlich in Bewegung.

Erdrutsch, Hochwasser in der Schweiz, 2005

Ein Erdrutsch zerstörte 2005 Häuser in Brienz im Berner Oberland in der Schweiz. Die Gefahr für Bergstürze und Hangrutschungen in den Alpen ist gewachsen. Das liegt unter anderem an den Folgen des Klimawandels.

(Foto: dpa/dpaweb)

Auf einer Breite von 500 Metern und einer Länge von 1500 Metern rutschte die Flanke ab. Der Strom aus Schutt, Schlamm und Geröll erreichte angeblich eine Geschwindigkeit von bis zu 200 Kilometern pro Stunde.

Die Masse raste durch den Talboden hinweg und brandete 120 Meter hoch an die gegenüberliegenden Hänge. Die Dörfer Goldau und Röthen am Fuße des Rossbergs im Schweizer Kanton Schwyz wurden ausgelöscht, 457Menschen starben.

Bis heute gilt der Goldauer Bergsturz vom 2. September 1806 als schwerste Naturkatastrophe der jüngeren Schweizer Geschichte. Das Unglück hatte sich an einem mit nur 1580 Meter Höhe eher unscheinbaren und vermeintlich harmlosen Berg ereignet. Und es kann sich jederzeit wiederholen - am Rossberg selbst oder anderswo in den Alpen.

Um Menschen rechtzeitig vor solchen Gefahren zu warnen, hat John Singer mehrere Monate auf einer Kuhweide verbracht. Dort hat der Ingenieurgeologe von der TU München gemeinsam mit Geodäten und mit Kollegen von der Universität der Bundeswehr in München 30 Meter tiefe Löcher in den Schlamm gebohrt.

Die Männer haben Kabel versenkt, einen Tachymeter-Prototypen aufgestellt, GPS-Geräte installiert, alles per Funkverbindung mit einem kleinen Rechenzentrum in einer nahen Hütte verbunden und die Technik auf der Weide mit Stacheldraht umzäunt. "Wegen der Kühe", sagt John Singer, "die Tiere sind so neugierig, dass sie uns sonst alles kaputtmachen würden."

Alle diese Geräte befinden sich auf der Aggenalm, einem unscheinbaren Hang unterhalb des Skigebietes am Sudelfeld. Hier in den bayerischen Voralpen nahe des Wendelsteins sind die Berge ähnlich gemütlich und vermeintlich zahm wie die Erhebungen im Kanton Schwyz, an denen es vor mehr als 200 Jahren zur Katastrophe kam. Und wie am Rossberg rutscht auch hier am Sudelfeld der Hang. Die Geowissenschaftler studieren die Bewegungen des kleinen Berges, um ein praxistaugliches und vor allem bezahlbares Frühwarnsystem für rutschende Hänge zu entwickeln.

Die Gefahr für Bergstürze und Hangrutschungen in den Alpen ist seit dem Goldauer Unglück gewachsen. Das liegt zum einen an den Folgen des Klimawandels. Die Modelle prognostizieren für den Alpenraum eine Zunahme der Starkregenfälle, eine der Hauptursachen für Hangrutschungen. Außerdem tauen die steigenden Temperaturen in höheren Lagen den sonst gefrorenen Boden auf, die Bergflanken verlieren dadurch ihre Stabilität. Gleichzeitig ist die Siedlungsdichte in den Bergen in den vergangenen Jahrzehnten gestiegen, es leben mehr Menschen in der Gefahrenzone.

"Gefährdete Hänge fast alle bekannt"

"Die gefährdeten Hänge sind fast alle bekannt", sagt Singer. Das Bayerische Landesamt für Umwelt verzeichnet Hunderte Gebiete in den Bergen zwischen Bodensee und Königssee, in denen ein Hang nachgeben kann. Auch in der Schweiz, in Österreich und den anderen Alpenländern sind die meisten Gefahrenzonen identifiziert. Doch wann ein Hang plötzlich in Bewegung gerät, wie 2006 am Immenstädter Horn im Allgäu oder 2007 in Doren im Bregenzerwald, ist ungewiss. "Dazu muss ein Hang permanent überwacht werden", sagt Singer.

Mure begräbt drei Hütten der Moar-Alm in der Gemeinde Haus, 1999

Eine Mure zerstört Häuser im steirischen Ennstal, Österreich. Die Hänge rutschen, weil Wasser das Gemisch aus Kalk- und Tongestein im Untergrund auswäscht. Der Kalk wird durch das von Natur aus leicht saure Wasser ausgelöst, das Material lockert auf und rutscht nach. Deshalb sind Regen und Schneeschmelze für instabile Hänge so gefährlich.

(Foto: AP)

So wie die Weide nahe des Sudelfelds, an der die Geowissenschaftler ihr Early Warning System for Alpine Slopes (Alpewas) entwickelt haben. Die Aggenalm rutscht dort auf einer Länge von 750 Metern und einer Breite von etwa 350 Metern ab. Fünf Millionen Kubikmeter lockeres Material schieben sich in Richtung Tal.

An den Rändern der Rutschungszone suchen Bäume Halt, indem sie sich mit verdickten Wurzeln an der stabilen Zone festkrallen. Die Stämme vieler Fichten und anderer Bäume sind gebogen: Weil ihnen der Boden unter den Wurzeln entgleitet und sie kippen, müssen sie immer wieder ihre Wuchsrichtung korrigieren.

"Aber die Aggenalm ist ein gutmütiger Hang", sagt Thomas Wunderlich, Lehrstuhlinhaber für Geodäsie an der TU München. Die Bewegung ist berechenbar, deshalb eignet sich der Hang so gut für das Projekt. Trotzdem offenbaren sich auch hier die Kräfte des Berges unmissverständlich. In der Begrenzungsmauer an der Straße, die das untere Ende der Hangbewegung quert, klafft ein etwa 25 Zentimeter breiter Riss.

Im Sommer vor zwei Jahren öffnete sich ein Loch im Asphalt, nicht einmal so groß wie eine Pizza. Am Ende verschwanden darin mehr als drei Kubikmeter Schotter, Sand und anderes Material, bis das Loch in der Straße wieder gefüllt war.

Der Hang auf der Aggenalm bewegt sich mit etwa ein bis zwei Zentimetern im Jahr in Richtung Tal. Wer das für unerheblich hält, sollte mit den Besitzern der Hütten an der Aggenalm sprechen. Durch deren Außenwände ziehen sich große Risse. In der Hütte, in der die Forscher ihr kleines Rechenzentrum in einer Art Schuhschrank aufgebaut haben, platzen die Fliesen auf dem Boden auf. In den 1930er Jahren verlor der Hang einmal seine Beherrschung und rutschte auf breiter Front um einige Meter ab.

Straßen wurden verschüttet, Hütten beschädigt und der nahe Bach staute sich auf. 1997 ging eine Mure auf dem Hang ab und beförderte 30000 Kubikmeter Felsen, Schlamm und Schotter bergab, seitdem wird der Hang regelmäßig überwacht. Erst durch das Bayerische Landesamt für Umwelt, dann durch die Mitarbeiter des Alpewas-Projekts.

Die Geoforscher haben mehrere, etwa 30 Meter tiefe Bohrungen in den Hang getrieben, bis sie auf stabilen Untergrund stießen. In die Bohrkanäle haben sie handelsübliche Koaxialkabel eingeführt und mit dem festen Untergrund verbunden. Rutscht die lockere Erdschicht über dem stabilen Fels, wird das Kabel im Übergang zur unbeweglichen Schicht gequetscht.

"Wenn wir elektromagnetische Wellen durch das Kabel schicken, können wir aus der Reflexion des Signals auf den Grad der Deformation schließen", sagt Singer. Der wiederum verrät das Ausmaß der Hangbewegung.

Weil so ein Koaxialkabel nicht besonders teuer ist und ein Loch von nur drei Zentimeter Durchmesser auch für wenig Geld gebohrt werden kann, ist das Verfahren erheblich günstiger als andere Techniken, bei denen Löcher von größerem Durchmesser gebohrt und ausgekleidet werden müssen. Weil es darüberhinaus nötig ist, per Hand Messsonden einzulassen, sind diese Systeme auch nicht für eine permanente Überwachung geeignet.

Allerdings hat die Variante mit den Koaxialkabeln einen Nachteil: Die Kabel reißen nach einer Weile. Nach einer Deformation von zwei bis fünf Zentimetern direkt über der Fixierung mit dem unbewegten Untergrund ist Schluss. Wenn der Hang weiter schiebt und drückt, reißt das Kabel wie die Baumwurzeln vor dem Goldauer Bergsturz.

Wasser als Auslöser der Katastrophe

Mure blockiert Zufahrt zum Arlbergtunnel

Eine Mure blockiert die Zufahrt zum Arlbergtunnel auf Tiroler Seite. In den Alpen Gleichzeitig ist die Siedlungsdichte gestiegen, es leben mehr Menschen in der Gefahrenzone.

(Foto: AP)

Der Geodät Stefan Schuhbäck von der Bundeswehr-Universität hat außerdem sogenannte Low-Cost-GPS-Empfänger installiert. Diese liefern zwar nur alle 15 Minuten Daten statt, wie Hochleistungsgeräte, alle 15 Sekunden, doch der Mittelwert vieler Messungen reiche aus, versichert Thomas Wunderlich. Außerdem kosteten die Geräte nur einen Bruchteil der Präzisionstechnik, mit der andere Hänge in den Alpen überwacht werden.

Mit einem Tachymeter, das wie ein kleiner Leuchtturm in der Stacheldrahtumzäunung auf der Aggenalm steht, sammeln die Forscher weitere Daten zur Bewegung der Oberfläche. Eine Digitalkamera erfasst automatisch die Bewegung von Felsbrocken oder Baumstümpfen. Die Beobachtungen kombinieren die Geoforscher schließlich mit Wetterdaten und den Messungen einer Sonde im Hang, die den Wasserpegel beobachtet.

Der Hang rutscht nämlich, weil Wasser das Gemisch aus Kalk- und Tongestein im Untergrund auswäscht. Der Kalk wird durch das von Natur aus leicht saure Wasser ausgelöst, das Material lockert auf und rutscht nach. Deshalb sind Regen und Schneeschmelze für instabile Hänge so gefährlich. Im Jahr 2010 beobachteten Vermessungstechniker zum Beispiel in der Steiermark in Österreich während des nassen Sommers 600 Hangbewegungen.

Auch 1806 in Goldau verursachte Wasser die Katastrophe. Der Sommer war wie die zwei Jahre zuvor ungewöhnlich regenreich gewesen, irgendwann konnte der Boden kein Wasser mehr aufnehmen und der schwere, vollgesogene Hang ging ab.

Die Hänge setzen sich mit einiger Verspätung in Bewegung: "Nach starkem Regen oder starker Schneeschmelze dauert es an der Aggenalm zweieinhalb bis vier Tage, bis der Hang reagiert", sagt Wunderlich. Das entspricht dem Zeitvorsprung, den das System Betreibern an gefährdeten Hängen verschafft. Bei heftigen Niederschlägen können Warnungen mit diesem Vorlauf gegeben werden.

In Doren am Bregenzerwald ist deshalb nun ein Teil des am Sudelfeld getesteten Alpewas-Systems im Einsatz. Denn dort stehen nur 70 Meter von der Abbruchkante der Hangrutschung von 2007 die ersten Wohnhäuser. Ein Warnsystem könnte dort überlebenswichtig sein.

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