Gedächtnis-Manipulation:Reset-Taste für das Gehirn

Neuroforscher löschen bei Versuchstieren bereits gezielt Gedächtnisinhalte - ihr Ziel ist es, auch bei Menschen störende Erinnerungen zu tilgen.

Christian Weber

Die Ärzte konnten nur einen unbedeutenden Bluterguss an der rechten Stirnseite ausmachen, doch die Patientin hatte ihr ganzes bisheriges Leben verloren. Während eines Chinaurlaubs hatten Mitreisende die 29-Jährige in einem Hotel gefunden, nackt und bewusstlos. Als sie aufwachte, konnte sie sich an kein Detail ihrer Biografie erinnern, nicht einmal an ihren Namen.

Gedächtnis-Manipulation: Kann man gezielt Inhalte aus dem Gedächtnis löschen - und welche?

Kann man gezielt Inhalte aus dem Gedächtnis löschen - und welche?

(Foto: Foto: iStock)

Eltern, Freunde, Kollegen erschienen ihr fremd. Dennoch blieben alle neurologischen Befunde unauffällig, auch mit dem Computertomografen ließen sich keine strukturelle Hirnschäden ausmachen. Auch hatte die junge Frau keine Schwierigkeiten, neue Informationen aufzunehmen und abzuspeichern. Doch irgendetwas musste ihre Erinnerungen einfach ausradiert haben.

Die neurologische Schauergeschichte ist nur einer von Dutzenden Fällen, die der Bielefelder Psychologe und Gedächtnisforscher Hans Markowitsch in den vergangenen Jahren untersucht hat. Sie alle belegen, dass ein plötzlicher Gedächtnisverlust bei ansonsten normalem Verhalten und Fähigkeiten nicht nur ein fiktives Szenario ist, wie es Drehbuchautoren gerne ersinnen, sondern auch in der Realität stattfindet - "und zwar häufiger, als man vermuten könnte", wie Markowitsch betont.

Nicht nur Hirnverletzungen können solche Amnesien auslösen, sondern auch Stress und traumatische Erfahrungen. Gedächtnisinhalte lassen sich also löschen, ohne dass die Gehirnstruktur beschädigt wird. Daraus folgert Markowitsch: "Es ist sogar vorstellbar, dass man gezielt bestimmte Erinnerungsinhalte löscht."

Zumindest bei Nagern bestätigen inzwischen zahlreiche Studien diese Annahme. Zuletzt berichteten brasilianische Forscher um Janine Rossato von Versuchen an Ratten (Science, Bd.325, S.1017, 2009). Erst trainierten sie den Tieren mittels Stromstößen zwei unterschiedliche Angstreaktionen an.

Einige erhielten beim Betreten eines Bereichs im Plexiglas-Käfig einen starken elektrischen Schlag auf die Pfoten. Daraufhin fürchteten sich die Ratten noch zwei Wochen später vor dem Ort, offensichtlich hatten sie das Erlebnis im Langzeitgedächtnis gespeichert. Bei einem leichten elektrischen Schlag hingegen war die Angst bereits nach zwei Tagen verschwunden.

Begrenzte Zeit zur Manipulation

Den Forschern gelang es nun, diese Angsterinnerungen zu manipulieren: Zwölf Stunden nach der Konditionierung spritzten sie den Ratten einen Dopaminblocker in den Hippocampus, ein für die Gedächtnisbildung wichtiges Gehirnareal.

In der Folge speicherten die Tiere auch nach dem starken Elektroschock keine anhaltende Angst. Wurde dagegen durch ein anderes Medikament die Empfindlichkeit der Dopaminrezeptoren gesteigert statt geschwächt, gruben sich auch die Erinnerungen an den schwachen Stromstoß ins Langzeitgedächtnis.

Andere Forschergruppen berichten von ähnlichen Ergebnissen. Ein Team um Todd Sacktor von der State University of New York blockierte vor drei Jahren mithilfe der Substanz "Zip" ein Enzym im Ratten-Hippocampus, das zur Gedächtnisbildung beiträgt (Science, Bd.313, S.1141, 2006).

Und im März dieses Jahres löschte eine Gruppe in Toronto bei Mäusen die ebenfalls per Stromschlag induzierte Angst vor einem bestimmten Tonsignal (Science, Bd.323, S.1429, 2009). "Grundsätzlich scheinen all diese Ansätze in gewisser Weise wirksam zu sein", kommentiert Psychologe Markowitsch - und gibt sich mäßig beeindruckt: "Ähnliches erreichen Sie mit Schlafentzug, K.o.-Tropfen oder massivem Alkoholkonsum."

Doch um Erinnerungen zuverlässig und gezielt manipulieren zu können, müssen die Forscher noch tiefer in die Mechanismen der Gedächtnisbildung eintauchen. Was passiert dabei auf molekularer Ebene - und in welchem Zeitraum?

Zumindest das Angstgedächtnis nämlich lässt sich nur innerhalb eines klar begrenzten Zeitfensters manipulieren, vermuten viele Forscher, und die neue brasilianische Studie scheint diese These zu bestätigen. Wurde nämlich der Dopaminblocker sofort oder sechs Stunden nach der Konditionierung gespritzt, beeinflusste er die Angsterinnerungen der Ratten nicht.

Tatsächlich denken die meisten Neurowissenschaftler, dass pharmazeutische Ansätze gegen die Erinnerungsbildung - anders als Psychotherapie - nur in den ersten Stunden nach einem Ereignis wirken. Gedächtnisinhalte verhielten sich demnach so ähnlich wie Zement, der frisch angerührt einfach zerfließt, nach einiger Zeit im halbfesten Zustand gut zu formen ist und schließlich betonhart eintrocknet, sich also nicht mehr verändern lässt.

Das wäre eine schlechte Nachricht für jene Menschen, die erst Monate nach einer Vergewaltigung, einer Kriegserfahrung oder einem schweren Verkehrsunfall an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) erkranken. Dass jedoch auch diese Patienten noch auf eine Pille für das gezielte Vergessen hoffen dürfen, zeigt der Fall der U-Bahn-Fahrerin Beatriz Arguedas.

Der Selbstmörder sprang, als sie an einem Septembertag des Jahres 2005 mit ihrem Zug in eine der geschäftigsten Stationen der Red Line in Boston einfuhr. "Wir hatten noch kurz Augenkontakt, dann hörte ich ein dumpfes Geräusch, als er auf den Wagen aufprallte, und dann ein knackendes Geräusch unter dem Zug.

Dann begann mein Herz zu hämmern", berichtete Arguedas einem CBS-Reporter. Ihr Zustand hielt an. "Ich brachte meinen Körper einfach nicht dazu, mit dem Schütteln aufzuhören. Ich zitterte andauernd. Die Erinnerungen kamen zurück, immer wieder."

Mittlerweile geht es Arguedas wieder besser, und womöglich liegt das auch daran, dass sie in eine klinische Studie des Psychiaters und PTBS-Experten Roger Pitman von der Harvard Medical School aufgenommen wurde. Der Betablocker Propranolol sollte ihre traumatischen Erinnerungen abschwächen. Das Medikament blockiert die Rezeptoren des Stresshormons Adrenalin, das die Gedächtnisbildung bei traumatischen Ereignissen fördert.

In früheren Studien, in denen Propranolol unmittelbar nach einem Stressereignis gegeben wurde, hatte es sich bereits als erfolgreich erwiesen. So konnten Neurobiologen zeigen, dass Propranolol bei Ratten die Gedächtnisbildung erschwert. Und das Team um Pitman hatte bereits 2002 an Unfallpatienten in einer Notaufnahme nachgewiesen, dass die sofortige Gabe des Mittels noch drei Monate später die üblichen PTBS-Symptome linderte.

Das Gedächtnis - täglich neu geboren

Doch in der neuen Studie waren die Versuchsteilnehmer Menschen wie Beatriz Arguedas, die schon jahrelang, manche seit bis zu 30 Jahren, an PTBS litten. Um ihnen zu helfen, musste Pitman also auch den Zement ihrer Erinnerungen auflösen. Dazu, so seine Überlegung, müsste man vor der Verabreichung des Wirkstoffs zunächst die Erinnerungen reaktivieren.

Die Studienteilnehmer sollten daher von ihrem traumatischen Ereignis erzählen, erst danach erhielten sie das Propranolol. Eine Woche später spielten ihnen die Forscher die auf Tonband aufgenommenen Berichte erneut vor und beobachteten die Reaktionen.

Das Gedächtnis ist nicht in Keilschrift gemeißelt

Pitman hatte gute Gründe, auf diese Methode zu vertrauen. Denn in zahlreichen, beeindruckenden Experimenten hat die Psychologin Elisabeth Loftus belegt, wie leicht sich falsche Erinnerungen in die Gehirne der Menschen schmuggeln lassen. So legte sie zum Beispiel Studenten eine gefälschte Anzeige des Walt-Disney-Konzerns vor, auf der die Studenten als Kinder gemeinsam mit dem Plüschhasen Bugs Bunny zu sehen waren.

Prompt konnten sich viele Versuchsteilnehmer an die vermeintliche Begegnung erinnern, sie berichteten sogar von Details wie Händeschütteln. Und David Rubin von der Duke University stellte fest, dass erwachsene Zwillinge häufig sehr unterschiedliche Versionen gemeinsamer Kindheitserlebnisse erzählen.

"Unser Gedächtnis wird jeden Tag neu geboren", folgerte Loftus aus diesen Studien. Erinnerungen seien keine für alle Zeit in Stein gemeißelten Keilschrift-Texte, sie glichen vielmehr flüchtigen Word-Dokumenten, die man sich gelegentlich auf den Bildschirm holt, ein bisschen bearbeitet und dann neu abspeichert.

In seiner Studie vertraute Pitman nun darauf, dass sich dieser Prozess nicht nur bei autobiografischen Erinnerungen induzieren lässt, die im Stirnhirn gespeichert werden, sondern auch bei den tiefer verankerten Angsterinnerungen der PTBS, bei denen es mehr um Emotionen als um Inhalte geht.

Das Ergebnis seiner Behandlung übertraf die Erwartungen: Die Stresssymptome der PTBS-Langzeitpatienten hatten sich ähnlich stark gelindert wie bei den Akutpatienten der Vorläuferstudie, die unmittelbar nach dem Ereignis das Medikament eingenommen hatten (Journal of Psychiatric Research, Bd. 42, S. 503, 2008).

Gerade weil Pitmans Behandlung so erfolgreich war, befeuerte sie eine Diskussion über die ethischen Fragen: Darf man die Erinnerung eines Menschen löschen, um ihm zu helfen - oder verändert es zu sehr die Persönlichkeit?

"Es ist etwas anderes, schlechte Erinnerungen zu löschen, als eine Warze oder einen Leberfleck zu beseitigen", warnt Daniel Sokol, Medizinethiker an der Universität London. "Das verändert unsere persönliche Identität, die an unsere Erinnerungen geknüpft ist."

Bewertung löschen - nicht die Fakten

Noch weiter geht Leon Kass, von 2002 bis 2005 Vorsitzender der Bioethik-Kommission von Ex-Präsident George W. Bush. Propranolol sei die "Morgen-danach-Pille für so ziemlich alles, das Bedauern, Reue, Schmerz oder Schuld auslöst." Er fordert eine "Pflicht zur Erinnerung", der Mörder ebenso unterliegen sollten wie Holocaust-Opfer, deren Gedächtnis vom Genozid künden sollte.

Sehr aufgeregt wirken diese Reaktionen, wenn man bedenkt, dass es in Pitmans jüngster Studie nicht darum ging, die Erinnerung an Fakten zu löschen, sondern deren emotionale Bewertung. Doch weniger übertrieben klingt die Kritik an der Erinnerungs-Manipulation, wenn man liest, dass die US-Armee gerade 6,7Millionen Dollar für die Suche nach neuen Therapien gegen die PTBS bereitgestellt hat.

Die US-Militärpsychiatrie ist berüchtigt dafür, dass sie mit allen Mittel versucht, ihre Soldaten einsatzfähig zu halten: Es kämpft sich leichter, wenn einen die Erinnerungen an vergangene Schrecken nicht zu sehr belasten.

"Wir sollten uns mit dem Thema beschäftigen, welche Erinnerungen wir haben wollen und welche nicht", fordert auch der Bielefelder Gedächtnisforscher Hans Markowitsch. Seine Patientin, die 29-jährige Chinareisende, hatte diese Entscheidungsfreiheit nicht. Dass sich das Rätsel um ihren plötzlichen Gedächtnisverlust schließlich aufklärte, war Zufall.

Als sie zehn Monate nach der Reise während einer Schlachtung auf dem Bauernhof ihres Freundes das Blut der Tiere an die Hände bekam, schockierte sie das so, dass plötzlich ihre Erinnerung wieder aufblitzte. In China sei sie, so berichtete die junge Frau zumindest, Zeugin eines Mordes gewesen und habe etwas vom Blut des Opfers abbekommen. Das letzte, woran sie sich erinnern könne, sei das Geräusch von Schritten hinter ihr - und panische Angst.

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