Linguistik:Wieso Gebärdensprache so vielfältig ist

A a sign language interpreter is seen as Democratic 2020 U.S. presidential candidate and former Vice President Joe Biden speaks during a campaign event in Waterloo, Iowa, U.S.

Eine Gebärdendolmetscherin bei einem Wahlkampfauftritt von Joe Biden

(Foto: REUTERS)
  • Bis zu 200 Gebärdensprachen für Gehörlose sind in den letzten Jahrhunderten entstanden.
  • Erstmals haben Forscher mit modernen Methoden ihre Entwicklung zurückverfolgt.
  • Die Sprachen verbreiteten sich demnach ausgehend von fünf Zentren in Europa über den Globus.

Von Christoph von Eichhorn

Die Menschheit verlernt ihre Sprachen rasend schnell. Hunderte Sprachen sind seit 1950 ausgestorben, mehr als 2000 weitere gelten als bedroht. Die gute Nachricht: Es kamen in den letzten Jahrhunderten auch einige neue dazu. Nur handelt es sich nicht unbedingt um gesprochene Wörter. So sind seit Beginn der Aufklärung bis zu 200 Gebärdensprachen für Gehörlose entstanden.

Schon allein die Anzahl mag viele überraschen. Doch Gebärdensprache ist nicht universell. Taube und schwerhörige Briten nutzen andere Gestik und Mimik als Iren, Japaner oder Schweden. Selbst gehörlose Deutsche und Österreicher lernen nicht dieselbe Gebärdensprache.

Ein Forscherteam ist nun erstmals dem Ursprung dieser Vielfalt nachgegangen. Im Fachmagazin Royal Society Open Science weisen die Linguisten nach, dass es fünf Zentren in Europa gab, von denen sich die Gebärdensprachen ausbreiteten.

Mittels Methoden der Evolutionsbiologie entstand ein Stammbaum der Gebärdensprachen

Das erste bekannte Fingeralphabet, bei welchem ein Handzeichen für einen Buchstaben steht, entwickelte der spanische Mönch Melchior de Yebra im 16. Jahrhundert. Seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten sich die Zeichensysteme dann vermehrt über den Globus, ausgehend etwa von der weltweit ersten öffentlichen Schule für Gehörlose in Paris. Fingeralphabete machen nur einen Teil der Kommunikation von Gehörlosen aus, sie werden etwa genutzt, um Worte zu buchstabieren, für die es kein Gebärdenzeichen gibt. Die Alphabete eignen sich wegen der eindeutigen Zuordnung zwischen Zeichen und Bedeutung aber besonders gut, um die historische Entwicklung nachzuvollziehen.

Für ihre Analyse verglichen Justin Power von der University of Texas, Johann-Mattis List vom Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte und der Biologe Guido Grimm 2124 Handzeichen aus 76 Fingeralphabeten. Dabei nutzten sie Methoden aus der Evolutionsbiologie, um einen Stammbaum der Gebärdensprachen zu zeichnen.

Wie sie dabei entdeckten, war die Entwicklung der Sprachen kein linearer Prozess. Vielmehr habe es neben Madrid und Paris weitere Keimzellen gegeben: Wien, London und Stockholm. Vor allem die österreichische Schule war wohl viel produktiver als vermutet. Sie habe neben der deutschen Gebärdensprache auch die dänische, norwegische, polnische und russische geprägt. Pariser Gelehrte wiederum verbreiteten ihre Zeichen eher über den Atlantik, etwa nach Brasilien und Mexiko, auch die amerikanische Gebärdensprache geht auf die französische zurück. Londoner Gebärdenzeichen fanden wiederum in den damaligen britischen Kolonien wie Indien oder Australien Anwendung. Ziemlich autark entwickelte sich laut der Studie die schwedische Gebärdensprache, die nur minimal mit anderen Einflüssen in Berührung kam. "Die Gemeinden, in denen sich die Sprachen herausgebildet haben, entwickelten sich wahrscheinlich unabhängig voneinander, mit vielleicht einigen schwachen institutionellen Verbindungen", sagt Power.

Heute erleichtert moderne Software die Übersetzung zwischen Gebärdensprachen, Internet und Apps senken Sprachbarrieren. Indes hat der Fortschritt auch seinen Preis: Viele Gebärdensprachen gelten bereits selbst als vom Aussterben bedroht.

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