Fusionsreaktor Iter:Politik des Sonnenofens

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Baugrube mit ungewisser Zukunft: Bereits 6,8 Milliarden Euro haben die beteiligten Staaten in das Fusionsexperiment Iter gesteckt. Doch auf dem geplanten Standort in der südfranzösischen Provence funktionieren bislang nur der Sicherheitsgürtel mit Stacheldraht und Elektrozaun. (Foto: MatthieuCOLIN.com / Iter Organization)

Das Fusionsexperiment Iter könnte den Weg zu billiger Energie weisen - oder eine milliardenteure Investitionsruine werden. Die organisatorischen Probleme bei dem Bau sind ähnlich groß wie die wissenschaftlichen Herausforderungen.

Von Alexander Stirn

Man könnte hier Handball spielen, auf zwölf Feldern nebeneinander. Oder ein wirklich großes Rockkonzert veranstalten. Oder einfach die Stille genießen. Man könnte in der riesigen Werkshalle mit ihrem kalt-grauen Betonfußboden aber auch die Komponenten eines der ambitioniertesten Forschungsprojekte unserer Zeit montieren - so wie ursprünglich geplant. Dazu müsste die Konstruktion des internationalen Fusionsreaktors Iter, der derzeit in der südfranzösischen Provence entsteht, allerdings deutlich weiter fortgeschritten sein. Ist sie aber nicht.

Noch nicht. "Ginge es allein nach der Physik und Technik, hätten wir schon vor langer Zeit mit der Montage beginnen können", sagt Remmelt Haange, der Technische Direktor des Fusionsvorhabens. Bei Iter (lateinisch für "der Weg") geht es aber um mehr. Es geht darum, Teams zu bilden, Kooperationen zu schmieden, viele nationale Interessen unter einen Hut zu bringen und ganz nebenbei die Energiequelle der Zukunft zu entwickeln. Das dauert.

Deshalb steht die knapp 250 Meter lange Halle, ein Zweckbau mit rot-grauer Industriefassade, noch immer leer. Der Asphalt ringsum ist neu, die Straßenmarkierungen sind akkurat, die kleine Böschung dahinter ist frisch bepflanzt. Ansonsten ist auf der 42 Hektar großen Iter-Plattform, die in den vergangenen Jahren unweit des Dorfes Saint-Paul-lès-Durance eingeebnet wurde, noch wenig zu sehen: Es gibt eine Baugrube, einige Kräne, holprige Wege und viel, viel provenzalischen Staub.

Ende 2011 ist die Halle als erstes großes Iter-Gebäude planmäßig fertiggestellt worden. Sie soll einzig und allein dem Zweck dienen, Spulen zu wickeln - keine konventionellen Elektromagneten, sondern Eigenentwürfe der Extraklasse: Beinahe mannshoch sollen die Stahlgiganten werden, mit einem Durchmesser von bis zu 25 Metern. Sie sollen gespickt sein mit armdicken Kabeln, die ihrerseits aus unzähligen supraleitenden Drähten bestehen.

Die Superspulen werden gebraucht, um eines Tages den Treibstoff des experimentellen Fusionsreaktors im Zaum zu halten: Iter will - ähnlich wie im Innern der Sonne - die beiden Wasserstoffvarianten Deuterium und Tritium aufheizen, sie ihrer Elektronen berauben und sie anschließend miteinander verschmelzen. Dabei entsteht ein schnelles Neutron, dessen Bewegungsenergie in Wärme und irgendwann (in einem kommerziellen Fusionskraftwerk) vielleicht sogar in Strom umgewandelt werden kann. Saubere, sichere, fast unbegrenzt vorhandene Energie entsteht. So zumindest die große Hoffnung.

Ganz freiwillig fusionieren die positiv geladenen Wasserstoffkerne allerdings nicht: Wie zwei gleichpolige Magnete stoßen sich die Teilchen gegenseitig ab. Überwinden lassen sich diese Kräfte nur mit immensen Temperaturen. Die Fusionsforscher wollen ihr Teilchengas, ein sogenanntes Plasma, daher auf mehr als 100 Millionen Grad Celsius aufheizen. Sie müssen dabei allerdings sicherstellen, dass das Plasma zu keiner Zeit mit den Wänden des Reaktors in Berührung kommt. Andernfalls würde sich das Wasserstoffgemisch schlagartig abkühlen, die Fusion würde gestoppt. Gelingen soll dies durch einen magnetischen Käfig - aufgespannt von 42 trickreich angeordneten Spulen. Wie im Innern eines Donuts sollen die geladenen Plasmateilchen darin berührungsfrei ihre Bahnen ziehen.

Dass es in Saint-Paul-lès-Durance noch keine Spulen gibt, dass die rot-graue Halle noch immer leer steht, hat politische Gründe: Sieben Bauherren teilen sich das Mammutprojekt. Neben der Europäischen Union sind dies Russland, China, Japan, Indien, Südkorea und die USA. Anders als beim Teilchenbeschleuniger LHC, der in den vergangenen Jahren ebenfalls als Gemeinschaftsaufgabe am Genfer Kernforschungszentrum Cern entstanden ist, überweisen die Partner aber nicht einfach ihren Anteil an den Baukosten nach Südfrankreich. Sie wollen vielmehr selbst bauen. Sie wollen das Know-how, vor allem aber die Aufträge und die damit verbundenen Arbeitsplätze in ihre eigenen Länder holen. Das macht die Sache kompliziert. Mindestens so kompliziert wie Plasmaphysik.

Für die riesigen Spulen, die längst die leer stehende Halle ausfüllen sollten, haben beispielsweise die Europäer den Zuschlag erhalten. Der Auftrag war auch schon ausgeschrieben. Gemeldet hat sich allerdings nur ein Konsortium, in dem sich alle in Frage kommenden Firmen zusammengeschlossen hatten. Gemeinsam wollten die Unternehmen den Preis diktieren. Nach langem Hin und Her zog Europa die Reißleine und zerstückelte den Auftrag in sieben Teile. Die neue Ausschreibung läuft. Anfang, spätestens Mitte nächsten Jahres hofft Haange, endlich mit dem Bau der Spulen beginnen zu können. Aktuell verhandelt er allerdings noch mit China und Japan, ob eine der kleineren Spulen, die ganz unten im Reaktor eingebaut werden muss, nicht teilweise dort gefertigt werden könnte. Das würde Zeit sparen, würde das Projekt aber wieder ein Stück komplizierter machen.

Dabei sind schon jetzt so gut wie alle wichtigen Komponenten auf zwei oder mehr Länder verteilt, die ihrerseits die Aufträge an mehrere Industriepartner weitergereicht haben. Ein großes Durcheinander. Zudem versucht jede nationale Organisation, die Designvorgaben der Iter-Zentrale ein klein wenig zu modifizieren - um Geld zu sparen und der eigenen Industrie entgegen zu kommen. "Letztlich führt das dazu, dass unsere Ingenieure sieben Entwürfe im Auge behalten müssen", sagt Remmelt Haange.

Das Reaktorgefäß, eine knapp 20 Meter breite und 5300 Tonnen schwere Vakuumkammer, wird zum Beispiel in Korea und in Italien gefertigt. Während die Koreaner konventionell schweißen wollen, würden die Italiener am liebsten schrauben. Mehr als ein Jahr lang haben die Iter-Ingenieure deswegen mit ihren europäischen Kollegen verhandelt; nun kommt in Italien das Elektronenstrahlschweißen zum Einsatz. Die Koreaner mit ihrer komplett anderen Methode haben sich derweil längst an die Arbeit gemacht. "Je mehr unterschiedliche Schnittstellen wir haben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass am Ende irgendwas nicht genau passt", sagt Haange leicht resigniert. "Aber das ist politisch gewollt, das können wir nicht ändern, damit müssen wir fertig werden."

Aus etwa einer Million Teilen wird Iter am Schluss zusammengebaut. Die Toleranz zwischen den einzelnen Komponenten liegt oftmals unter einem Millimeter. Erschwerend kommt hinzu, dass die tonnenschweren Bauteile unter ihrem eigenen Gewicht bereits um mehrere Millimeter nachgeben. Werden die supraleitenden Spulen auf minus 269 Grad Celsius abgekühlt, ziehen sie sich sogar um zwei Zentimeter zusammen. All das muss berücksichtigt werden.

Haange, der 2010 zu Iter geholt wurde, um das damals taumelnde Forschungsprojekt auf den rechten Weg zu bringen, setzt daher auf strenge Qualitätskontrollen. Und auf moderne Technik: Ein paar Kilometer weiter, auf dem mit Stacheldraht und Elektrozäunen gesicherten Gelände des französischen Kernforschungszentrums Cadarache, haben die Fusionsforscher ein virtuelles Modell ihres Experiments geschaffen. Eine 3-D-Brille und eine mehr als zwei Meter hohe Leinwand genügen, um in den Reaktor einzutauchen, um Bauteile zu montieren und Schrauben festzuzurren. Jede wichtige Änderung am Design wird hier durchgespielt. "Passt etwas nicht, dann holen wir die Verantwortlichen und ermuntern sie, ihre Entwürfe zu überdenken", sagt der Iter-Ingenieur Jens Reich.

Die Macht der 3-D-Bilder wirkt offenbar: Zu Beginn hatten Reich und seine Kollegen noch 1500 potenzielle Probleme ermittelt. Teilweise überlappten Kühlrohre und Stromleitungen, Schrauben waren nicht zu erreichen. Inzwischen konnte die Zahl der Konflikte auf einige Dutzend reduziert werden. Die Arbeit ist damit aber noch lange nicht getan; es wird weiter entworfen und verändert. "Wir können uns leider nicht den Luxus erlauben, erst das Design abzuschließen und dann mit dem Bau zu beginnen", sagt Remmelt Haange.

17 Meter tief ist die Baugrube direkt neben der rot-grauen Montagehalle. Hier soll das Reaktorgebäude entstehen, bislang sind allerdings nur die Außenmauern und 493 Betonsäulen zu sehen - Stoßdämpfer, auf denen der 360 000 Tonnen schwere Reaktor erdbebensicher ruhen soll. Die gelbe Verschalung für die erste Zwischendecke liegt schon bereit.

Wobei auch das Betonieren bei einem Projekt wie Iter keine einfache Aufgabe ist: Die Neutronen, die während der Fusion entweichen, erzeugen beim Abbremsen radioaktive Stoffe. Auch das Tritium, eine der beiden Wasserstoffvarianten im Plasma, ist leicht radioaktiv. Die Betonmischung muss dieser Strahlung widerstehen können. Und obwohl frühestens 2027 mit den ersten radioaktiven Experimenten zu rechnen ist, gilt die Baustelle schon heute als Nukleareinrichtung. Busse, die aufs Gelände wollen, werden daher vom Werkschutz bis zur letzten Reihe durchkämmt - nicht, dass sich jemand unter den Sitzen versteckt. Beim Betonieren ist zudem stets die französische Atombehörde dabei. Und alle paar Monate rücken die Aufseher zu umfassenden Kontrollen an. All das kostet Zeit.

Exakt 23 Monate hinken Haange und sein Team derzeit hinter ihrem selbstgesteckten Zeitplan her. Statt wie geplant für November 2020 wird das erste, noch nicht fusionierende Plasma nun für Oktober 2022 angepeilt. Der Niederländer gibt sich aber zuversichtlich, durch Änderungen am Bauablauf und durch zusätzliche Schichten der bis zu 4000 Arbeiter einen Teil der Verspätung hereinholen zu können.

Denn jede Verzögerung kostet Geld, und Geld hat Haange nicht: Ursprünglich sollte Iter fünf Milliarden Euro kosten, nun wird es wohl auf das Dreifache hinauslaufen. Der Reaktor könnte damit fast sechsmal so teuer ausfallen wie der LHC, er kommt aber immerhin nur auf ein Sechstel der Kosten, die bislang für die Internationale Raumstation ISS aufgewandt wurden. Wie viele Euro es letztlich genau sein werden, kann jedoch niemand sagen: Da die Kaufkraft in den Mitgliedsländern unterschiedlich stark ist, werden die Sachleistungen mit einer eigenen Iter-Währung verrechnet. Deren Kurs kann schwanken.

Sicher ist nur, dass die EU, die aktuell 45 Prozent der Baukosten stemmt, nicht mehr als 6,6 Milliarden Euro ausgeben will. Sollte Iter in 15 Jahren beweisen, dass die Fusion in großtechnischem Maßstab machbar und finanzierbar ist, wäre das gut angelegtes Geld. Sollte Iter scheitern, wäre es eine gewaltige Abschreibung. So oder so ist die Investition, wie die Iter-Experten betonen, eine Wette auf die Zukunft. Forschung in Reinkultur, allerdings mit einem äußerst teuren, äußerst aufwendigen Experiment.

Remmelt Haange gibt sich dennoch zuversichtlich, dass Iter wie geplant funktionieren wird. "Technisch kommen wir gut voran, ich sehe keine unüberwindbaren Hindernisse", sagt der Ingenieur. Zehnmal so viel Energie, wie für die Heizung des Plasmas und den magnetische Käfig nötig sind, soll der Versuchsreaktor liefern. Es wär eine Premiere, denn bislang hat jedes Fusionsexperiment deutlich mehr Energie verschlungen als es produzieren konnte.

Iter soll dieses Problem durch seine schiere Größe überwinden. Aber auch durch technische Neuerungen, die bislang nicht erprobt werden konnten: Damit der Sonnenofen bis zu acht Minuten lang brennen kann, muss zum Beispiel das Helium, das beim Verschmelzen der Wasserstoffkerne entsteht, kontinuierlich aus dem dünnen Plasma entfernt werden. Platten und Vakuumpumpen im unteren Bereich des Donuts sollen diese Aufgabe übernehmen. Erstmals werden ihre Oberflächen bei Iter mit dem extrem temperaturbeständigen, aber spröden Schwermetall Wolfram überzogen sein. Komplett neu ist auch die Verkleidung der Innenwände des Reaktorgefäßes: Beryllium soll die austauschbaren Platten, die Neutronen einfangen und in Wärme verwandeln, haltbar machen.

In einer künftigen Ausbaustufe wird den Kacheln dann noch eine weitere Aufgabe zukommen: Tritium existiert in der Natur nicht. Im Alltagsbetrieb muss ein Fusionsreaktor das dringend benötigte Wasserstoffisotop daher selbst herstellen. Dazu wollen die Forscher in die Platten das Leichtmetall Lithium einbauen, das beim Beschuss mit Neutronen Tritium erzeugen kann. Sechs unterschiedliche Module mit sechs unterschiedlichen Technologien sollen dafür zum Einsatz kommen. Schließlich wollen auch hier - wie könnte es anders sein - mehrer Iter-Länder ihre eigene Idee verwirklicht sehen.

© SZ vom 04.05.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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