Süddeutsche Zeitung

Frühkindliche Entwicklung:Wann beginnt der Schmerz?

Ab wann ein Kind Schmerzen empfinden kann, war lange Zeit unklar. In der Vergangenheit wurden Frühchen sogar ohne Betäubung operiert, weil man dachte, sie würden darunter nicht leiden. Jetzt haben Wissenschaftler herausgefunden, wann unser Gehirn reif genug ist für Pein.

Christina Berndt

Ist es nur eine Berührung oder doch schon Schmerz? Die Unterscheidung fällt dem Erwachsenen leicht, auch wenn Berührungen mitunter unangenehm und schmerzvolle Empfindungen auch angenehm konnotiert sein mögen.

Um zwischen Schmerz und Berührung trennen zu können, muss das Gehirn aber eine gewisse Reife erlangen - und dies scheint einer britischen Studie zufolge erst zwischen der 35. und 37. Woche der Embryonalentwicklung der Fall zu sein, also wenige Wochen vor dem errechneten Geburtstermin (Current Biology, online).

Die britischen Wissenschaftler untersuchten das Schmerzempfinden in diesem zarten Alter allerdings nicht an Ungeborenen, sondern an 46 Kindern, die bereits zur Welt gekommen waren.

Die Forscher fügten den Kindern, deren Entwicklungsalter zwischen 28 und 45 Wochen betrug, auch nicht absichtlich Schmerzen zu. Sie beobachteten nur die Hirnströme der Babys, wenn diesen für einen Routinetest Blut aus der Ferse abgenommen wurde.

Bis zum Alter von 35 Wochen ergaben sich dabei im Gehirn die gleichen unspezifischen Aktivitätsmuster - egal, ob die Frühgeborenen den Stich in die Ferse ertragen mussten oder ob nur jemand mit einem Reflexhämmerchen klopfte.

"Erst nach der 35. Woche begann das Gehirn, die beiden Stimuli auf unterschiedliche Art zu verarbeiten", sagt Rebeccah Slater vom University College London. Trotzdem könnten jüngere Babys aber unter dem Stich leiden, betont sie.

Noch vor 25 Jahren hätten Ärzte die ihrer Ansicht nach gefühllosen Frühchen ohne Narkose operiert, erzählt Gerhard Jorch, Neonatologe an der Uni Magdeburg. Inzwischen sei bekannt, dass ab der 20. Woche Schmerzrezeptoren vorhanden seien.

Kurz danach reagieren Frühgeborene mimisch und mit Abwehr auf Schmerzen; Herzfrequenz und Blutdruck steigen. "Es kann gut sein, dass die Empfindung qualitativ eine andere ist als im späteren Alter", sagt Jorch. "Aber solange wir nicht ausschließen können, dass ein Kind etwas als unangenehm empfindet, müssen wir es mit aller Vorsicht behandeln."

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Quelle:
SZ vom 09.09.2011/mcs
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