Frühgeburten:Schattenseiten eines Wunders

Extrem frühgeborene Babys können heute überleben - doch die wenigsten entwickeln sich normal, wie die erste große Langzeitstudie zeigt. Für die Ärzte eine schwere Entscheidung: Ab welchem Entwicklungsstadium ist es sinnvoll, das Leben von Frühchen mit allen Mitteln zu retten?

Ulrich Kraft

250 Gramm wiegt ein Stück Deutsche Markenbutter. 30 Gramm mehr brachte Madeline auf die Waage, als sie 1989 in Chicago das Licht der Welt erblickte - drei Monate vor dem errechneten Geburtstermin. Doch Madeline schaffte es. Wochen später verließ sie die Neugeborenenstation, als das kleinste Frühgeborene, das bis dato überlebt hatte.

Frühchen, dpa

Dank Intensivmedizin überleben heute auch Säuglinge, die vor der 26. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen.

(Foto: Foto: dpa)

Erst im vergangenen Jahr wurde ihr Rekord von der kleinen Amerikanerin Rumaisa gebrochen, die mit 244 Gramm überlebt hat. Madeline erfreue sich inzwischen guter Gesundheit, berichtete einer ihrer Ärzte vergangenes Jahr im New England Journal of Medicine (1). Mit 136 Zentimetern sei Madeline zwar klein für ihr Alter, auf der High-School aber unter den besten zwanzig des Jahrgangs.

Die Fortschritte in der Therapie von Frühchen sind zweifelsohne enorm. Noch vor 20 Jahren hätte man sich um Rumaisa und Madeline gar nicht bemüht, Kinder unter 1200 Gramm Geburtsgewicht galten als Fehlgeburt. Durch ausgeklügelte intensivmedizinische Betreuung verschoben Neonatologen die Grenze seitdem immer weiter nach vorne.

Vier von fünf Frühchen behindert

Dieter Wolke aber stimmt das nicht nur froh. "Oft zählt nur der Erfolg, eine Frühgeburt ins Leben gebracht zu haben", sagt der Entwicklungspsychologe und Wissenschaftsdirektor der Züricher Jacobs-Foundation. "Welche Qualität dieses Leben hat, wurde bisher kaum wissenschaftlich nachgeprüft." Das hat Wolke jetzt nachgeholt.

Gemeinsam mit britischen Forschern untersuchte er, wie sich Frühchen, die vor dem Ende der 26. Woche zur Welt kommen, langfristig entwickeln. Das Fazit: Nicht sonderlich gut. Vier von fünf Kindern litten im Alter von sechs Jahren unter einer körperlichen oder geistigen Behinderung. "Weil sie vor zwei Jahrzehnten niemals überlebt hätten, bezeichnet man diese extremst Frühgeborenen gerne als Wunderbabys, sagt Wolke. "Doch gerade einmal jedes fünfte hat bei Schuleintritt keine Probleme."

Eine normale Schwangerschaft dauert 40 Wochen. Wenn das Kind vor der 37. Woche den schützenden Uterus verlässt, gilt es als Frühchen. Intensive medizinische Betreuung brauchen Babys mit einem Geburtsgewicht von weniger als 1500Gramm.

An der Schwelle des Überlebens

"Ihre Organe, insbesondere die Lunge und das Gehirn, sind noch nicht ausgereift", sagt Michael Obladen, Chefarzt der Neonatologie am Berliner Universitätsklinikum Charité. Etwa 8000 dieser Winzlinge werden jährlich in Deutschland auf speziellen Intensivstationen versorgt.

Die von Dieter Wolke untersuchten Kinder brachten bei ihrer Geburt durchschnittlich 700 Gramm auf die Waage. Mit einem Gestationsalter von weniger als 26 Wochen zählten sie alle zu den extrem unreifen Neugeborenen. "Kinder an der Schwelle des Überlebens", wie der Forscher sagt.

In die Studie wurden sämtliche extrem Frühgeborene einbezogen, die zwischen März und Dezember 1995 in Großbritannien und Irland geboren worden waren, 1289 insgesamt. Nur 308 von ihnen erreichten das sechste Lebensjahr. Aber das bedeutete keineswegs, dass es ihnen auch gut ging.

Jedes fünfte litt unter schweren Behinderungen - Blindheit, Hörverlust, motorischen Störungen oder einem deutlich verringerten Intelligenzquotienten. "Sie sind ihr ganzes Leben lang auf Hilfe angewiesen", stellt Wolke klar. Weitere 24 Prozent der Frühgeborenen war mittelgradig behindert, ein gutes Drittel leicht. "Die Neonatologie stößt hier an die Grenzen des Machbaren", sagt Dieter Wolke.

Schattenseiten eines Wunders

Man betreibe in diesem Bereich "Experimentalmedizin". Im Ausland wird mit Frühgeborenen anders umgegangen. So schränkte die Schweiz im Jahr 2002 die Versorgung extremer Frühchen ein. Kinder, die dort vor Ende der 24.Woche zur Welt kommen, sollen nicht intensivmedizinisch versorgt werden, sagen die Richtlinien.

Ihre Wahrscheinlichkeit, ohne schwerwiegende Schäden zu überleben, sei zu gering. Die Niederlande zogen mittlerweile nach.

Kleine Chance für das Leben

Gemäß den deutschen Empfehlungen gelten Frühgeburten nur vor der 22.Woche als nicht lebensfähig. Danach lautet der Grundsatz: "Lebenserhaltende Maßnahmen sind zu ergreifen, wenn für das Kind auch nur eine kleine Chance zum Leben besteht."

Der Vorsitzende der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin, Ludwig Gortner, sieht trotz der neuen Studienergebnisse keinen Anlass zur Verschärfung der Leitlinien. Die individuellen Unterschiede zwischen den Neugeborenen seien einfach zu groß, so Gortner.

"In der 24.Schwangerschaftswoche gibt es ausgesprochen vitale Frühchen. Die behandeln wir natürlich. Sie haben dasselbe Lebensrecht wie jeder andere Mensch." Definierte Grenzen ließen sich nicht ziehen, so Gortner, es müsse von Fall zu Fall entschieden werden.

Schwere Entscheidung

Dem stimmt auch der Berliner Neonatologe Obladen zu: "Unmittelbar nach der Entbindung kann man die Chancen nur schwer beurteilen", sagt er. Für die Entscheidung, ob beatmet werden soll oder nicht, bleiben im Kreißsaal aber nur Sekunden.

"Deshalb machen wir meist eine Art Intensivtherapie auf Probe. Dann hat man Zeit zu schauen, wie das Kind sich schlägt." Wenn erkennbar wird, dass die Perspektive des Frühchens auf Grund von Komplikationen wie einer Gehirnblutung sehr schlecht ist, schalten die Ärzte die Apparate ab - vorausgesetzt die Eltern sind einverstanden.

"Letztlich bestimmen sie", sagt Obladen. "Wir sagen ihnen aber klipp und klar die Wahrheit, nämlich dass sie mit einem schwerstbehinderten Kind rechnen müssen." Die Studie aus Großbritannien macht ihn nachdenklich.

Frühchen besser behandeln

"Bei uns wird die langfristige Entwicklung von Frühchen kaum wissenschaftlich verfolgt", sagt Obladen. Er fordert, die Kinder in regelmäßigen Zeitabständen zu untersuchen, mit einheitlichen Tests. Nur so ließen sich die Merkmale herausfinden, die zeigen, welche Frühchen später unter schweren Behinderungen leiden werden.

"Die Konsequenz soll dann aber nicht sein, sehr früh geborene Babys nicht mehr zu behandeln", betont Ludwig Gortner. "Wir wollen vielmehr herauszufinden, wie wir sie besser behandeln können."

(1) New England Journal of Medicine, Bd.351, S.836, 2004 (2) New England Journal of Medicine, Bd.352, S.9, 2005

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