Freundschaft im Internetzeitalter:Du hast 100 neue Freunde

Personen, die Du vielleicht kennst: Auf sozialen Internet-Seiten findet jeder schnell "Freunde". In der realen Welt aber würden viele dieser Bindungen nicht einmal kleinste Krisen überstehen. Wie aufrichtig sind Freundschaften heute noch?

Christian Weber

Am Weihnachtsabend um 22.53 Uhr schrieb Simone Back aus dem südenglischen Brighton eine Nachricht an ihre 1048 Freunde. "Hab all meine Pillen genommen, bin bald tot, also bye bye an alle." Acht Minuten später erschien auf ihrer Facebook-Seite eine erste Reaktion: "Sie erzählt immer von Überdosen, und sie lügt."

Kunstfestival Transmediale

Kunstfestival Transmediale in Berlin: In dem Projekt "Face to Facebook" haben Alessandro Ludovico und Paolo Cirio eine Million Facebookprofile verändert.

(Foto: dpa)

In den 148 folgenden Nachrichten finden sich Häme, Lügenbezichtigungen, Diskussionen darüber, wie ernst sie es wohl meint, und überhaupt: "Es ist ihre Entscheidung." Niemand setzte einen Notruf ab. Erst am nächsten Tag informierte jemand Backs Mutter. Als die Polizei die Tür aufbrach, war es zu spät: Simone Back starb in einem Krankenhaus, 18 Stunden nachdem sie ihren Hilferuf abgesetzt hatte.

So geht eine Internetgeschichte, die in diesen Tagen von den britischen Medien heftig diskutiert wird. Die Frage ist, was sie tatsächlich aussagt über das Wesen der Freundschaft in Zeiten digitaler Kommunikation, beschleunigter und komplexer Lebensverhältnisse. Stimmt die These, wonach mit jeder neuen Kommunikationstechnologie das soziale Leben weiter verfällt und die allgemeine Vereinsamung droht?

Doch für platten Kulturpessimismus finden sich wenig Belege. Denn es gibt auch zahlreiche positive Netzgeschichten, solche etwa, wie sie die "digitale Ethnologin" Stefana Broadbent vom University College London im Juli 2009 auf der TED-Konferenz in Oxford erzählt hat.

Sie berichtete von ihren Expeditionen in Wohnungen, Büros und Fabriken, wo sie entdeckte, wie moderne Kommunikationsmittel private Beziehungen stärken können - etwa bei den beiden Freunden, die auf ihren jeweiligen Büro-Computern ein Kurznachrichten-Programm installiert hatten, mit dem sie wann immer möglich chatteten.

Oder bei philippinischen Müttern in der Migration, die ihre zurückgelassenen Kinder so gut wie möglich via Skype erziehen. Nett war auch das nach Italien ausgewanderte brasilianische Paar: Einmal die Woche stellte es Computer und Webcam auf den Tisch und tafelte gemeinsam mit Familie und Freunden in São Paulo. Da fällt es schwer zu behaupten, das Internet zerstöre notwendigerweise soziale Kontakte.

Im Gegenteil, sagt Broadbent, Messungen in vielen Ländern hätten ergeben, dass in den Büros am Vormittag gegen elf Uhr die meisten privaten Mails verschickt werden. "Das zeigt, dass die Menschen am Arbeitsplatz wieder ihr privates Umfeld in Besitz genommen haben."

Endlich sei man wieder in jenem intimen, in gewisser Weise prämodernen Zustand der Kommunikation angelangt, wo Privatleben und Beruf nicht getrennt waren und der erst durch die Industrialisierung zerstört worden war - "eine unglaubliche soziale Transfomation", jubelt Broadbent, und eine Chance auch für die Pflege von Freundschaften.

Auch die Zahlen widersprechen einer allgemeinen Vereinsamungsthese. Nach der für solche Sachverhalte solidesten Quelle, dem Familien-Survey des Deutschen Jugendinstitutes (DJI) in München, haben sich die Freundschaftsbeziehungen in den vergangenen Jahrzehnten intensiviert.

Selbst Motorradjungs wollen intime Kommunikation

In der letzten Erhebung erklärten 30,1 Prozent der Menschen in den alten Bundesländern im Alter zwischen 18 und 55 Jahren, dass sie mindestens einen Freund oder eine Freundin haben, mit dem oder der sie persönlich wichtige Sachen besprechen; 17,5 Prozent bekundeten eine enge emotionale Bindung zu dieser Person. Im Jahre 1988 lagen die entsprechenden Zahlen noch deutlich niedriger, bei 20 und elf Prozent. In den Umfragen des Sozioökonomischen Panels (SOEP) erklären konstant rund zehn Prozent der Deutschen, sie fühlten sich sehr einsam.

"Der Trend ist klar", sagt Janosch Schobin vom Hamburger Institut für Sozialforschung. "Seit den achtziger Jahren nimmt die Bedeutung der Freunde zu. Sie werden manchmal sogar wichtiger als Familie und Partner." Rund zehn Prozent der Deutschen - vor allem die Singles und Kinderlosen - verbrächten ihre Lebenszeit hauptsächlich mit Freunden im engeren Sinne, definiert als jene Menschen, denen man sich nahe fühlt und mit denen man die privaten Gespräche führt. " Selbst die ganz harten Motorradjungs beherrschen heute die intimisierte Kommunikation", versichert Schobin.

Dabei bezieht sich der Soziologe nicht nur auf Statistiken. Er verglich unter anderem TV-Sitcoms aus den achtziger Jahren mit solchen aus der Gegenwart. "In den alten Sendungen saß die Familie im Wohnzimmer auf der Couch vor dem Fernseher, und ständig rannten Leute rein und raus", erläutert Schobin. Selbst in der für damalige Zeiten leicht obszönen Comedy "Klimbim" drehte sich alles um die namensgebende Familie; sogar der durchgeknallte Opa krakeelte immer mit.

In moderneren Sitcoms wie "Friends" hingegen ist das Personal ausgetauscht. "Da sind die Freunde das Leben - alle Katastrophen, Partnergeschichten, Büroprobleme werden nur mit den Freunden ausgemacht."

Dabei sehen die wenigsten Soziologen die Hinwendung zu den Freunden als Abkehr oder Beleg für die Antiquiertheit von Ehe und Familie. "Das Problem ist, dass es zunehmend Leute gibt, die einfach keine Familie haben", sagt Schobin. "Wenn zwei Einzelkinder zusammenfinden und wieder ein Einzelkind bekommen, dann hat dieses Kind keine Schwester und keinen Bruder, keine Onkels und Tanten, weder Cousins noch Cousinen." Wenn die Eltern entfernt wohnen, verschärft sich das Problem. Wer passt dann auf das Kind auf? Schleppt die Waschmaschine? Füttert die Katze? Teilt das Leid und die Freuden?

Manche Autoren sehen weitere Gründe für den Boom der Freundschaft. In Zeiten, in denen der Sozialstaat schrumpft, müssten gerade Junge, die noch wenig sozialrechtliche Ansprüche erworben haben, auf die Solidarität der Freunde zurückgreifen, meint der Kasseler Soziologe Heinz Bude. Ähnlich der Ex-Bürgermeister von Bremen, Henning Scherf, der angesichts des drohenden Pflegenotstands für Wohngemeinschaften plädiert, wo alte und vielleicht auch junge Freunde unter einem Dach leben.

Diese vielen guten Gründe für die Freundschaft sind aber auch nicht ganz unproblematisch - eben weil sie Gründe sind. Verträgt sich denn eine derartige Funktionalisierung mit der ursprünglichen Idee der wahren Freundschaft, wo es um reine Sympathie zwischen zwei Menschen gehen soll?

Doch wahrscheinlich handelt es sich dabei um eine ähnlich überhöhte und schwer erfüllbare Idee wie die Vorstellung der unsterblichen Liebe. Selbst der deutsche Freundschaftskult zwischen 1750 und 1850 war eine gut begründete Angstreaktion auf die Aufklärung und die beginnende Industrialisierung, sagen Sozialhistoriker. Freundschaft diente ähnlich wie heute "als Bollwerk gegen die Angst vor dem Verfall verwandtschaftlicher und familiärer Bindungen", schreibt der Soziologe Rudolf Stichweh.

"Es kann ja wohl nicht angehen, dass die Beziehung weniger wert sein soll, nur weil ein Freund helfen will", sekundiert der Hamburger Forscher Schobin. Andererseits sieht er auch die Gefahr der Überforderung. "Freundschaften funktionieren gut, wenn es um emotionale Unterstützung geht." Schon schwieriger wird es allerdings, wenn Zeit und Arbeitskraft nachgefragt wird. Richtig kompliziert wird es schließlich, wenn es um Geld geht - die Peinlichkeit nicht beglichener Schulden jedenfalls übersteht kaum eine Beziehung.

Schlechte Nachrichten bringt die Forschung auch für die Verfechter der Alten-WG: Das Sozioökonomische Panel fand unter seinen 11000 befragten Haushalten gerade mal sieben, wo Freunde die Pflege Bettlägriger übernahmen, das sind weniger als zwei Prozent der Pflegefälle.

Und immer gilt noch, dass der Freiwilligkeit der Freundschaftsbeziehung ihre ständige, potentielle Auflösbarkeit entgegensteht - Freundschaften müssen gepflegt werden. Das kann anstrengend werden, gerade dann, wenn man sich in jener Grauzone bewegt, wo Freundschaften auch beruflichen Nutzen bringen sollen, wenn es also um Networking geht.

"In der schönen neuen Arbeitswelt ist auch die Freundschaft nur ein Projekt", sagt die Sozialwissenschaftlerin Erika Alleweldt, die im Rahmen ihrer Dissertation die Lebenswelt junger Berliner Journalistinnen im Alter von 25 bis 30 Jahren erforschte. "Glaubt man den Bildern der Werbung, versprechen Freunde vor allem Glück und gute Laune", sagt Alleweldt, doch in der Realität sehe man: Stress.

Möglichst viele Facebook-Freunde als Statussymbol

Sie beschreibt eine Gruppe hochmobiler, rastloser Frauen, die sich weitgehend vom romantischen Freundschaftsideal verabschiedet hat. "Die fragen sich schon immer, was bringt mir das jetzt, dass ich mich mit dem treffe?" Alle Verabredungen stehen unter Vorbehalt und können jederzeit abgesagt werden, wenn sich etwas Besseres auftut.

Kein Wunder, dass viele von ihnen sich nicht eingebunden fühlen. Dennoch verzichten viele bewusst auf die klassische "beste Freundin". Zum Status gehört es, viele Freunde zu haben, die auch im Internet dokumentiert werden. Facebook ist das Panini-Album der jungen Berufseliten.

Doch die mediale Umsetzung der neuen Freundschaftskultur ist nicht das eigentliche Problem. "All diese Kulturkritiker machen mich eigentlich nur noch müde", stöhnt Sozialpsychologe Jaap Denissen von der Humboldt-Universität. "Die empirisch arbeitende Wissenschaft ist sich eigentlich weitgehend einig, dass über soziale Netzwerke offline begründete Freundschaften vertieft und erhalten werden."

Problematisch wird es erst, wenn jemand seine 1048 Facebook-Briefmarken für reale Freunde hält. Spätestens dann sollte er irgendwo anrufen, wo er professionelle Hilfe findet.

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