Raumfahrt:Helgas Mondfahrt

Raumfahrt: Der Test-Torso trägt den Namen Helga.

Der Test-Torso trägt den Namen Helga.

(Foto: DLR)

Test-Dummys sollen erstmals ermitteln, welcher Strahlenbelastung der weibliche Körper während einer langen Reise durchs All ausgesetzt ist.

Von Alexander Stirn

Helgas Organe sind überzogen von mehr als 5000 winzigen Kristallen, eine Ausnahmeerscheinung. Kein Wunder, soll Helga doch in wenigen Monaten zum Mond aufbrechen - mit dem ersten Testflug des neuen US-Mondprogramms namens Artemis. Die US-Raumfahrtbehörde Nasa möchte wieder Menschen zum Mond bringen. Für den Sommer 2023 ist zunächst eine Umrundung geplant. Ende 2025, so der ambitionierte Plan, sollen dann die erste Frau und der erste nicht-weiße Mensch ihre Spuren im Mondstaub hinterlassen. Die Missionen werden sich jeweils über viele Wochen hinziehen. An Bord einer geplanten Raumstation in der Mondumlaufbahn, Gateway genannt, sollen Raumfahrende sogar drei Monate lang ausharren. Sollte es irgendwann zum Mars gehen, werden Hin- und Rückflug allein drei Jahre dauern.

Wer nun aber denkt, Helga wäre aus aus Fleisch und Blut und Deutschland hätte endlich seine erste Astronautin gefunden, wird enttäuscht: Helga ist ein lebensgroßer Torso aus Kunststoff. Mit Helgas Hilfe wollen Forschende des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) erstmals ermitteln, welcher Strahlenbelastung der weibliche Körper mit all seinen Knochen und Organen während eines Flugs zum Mond ausgesetzt ist.

Bis heute hat die Bundesrepublik keine Frau ins All geschickt

Vierundzwanzig Menschen haben bislang die Strapazen eines Mondflugs auf sich genommen, es waren allesamt Männer. Auch die Flugzeiten der Apollo-Missionen, die zwischen 1968 und 1972 zum Mond führten, waren eher knapp gehalten. Länger als zwölfeinhalb Tage hatte keine Crew die Erde verlassen. Mitte der 1980er-Jahre waren die Deutschen indes schon weiter. Damals hatte Westdeutschlands Raumfahrtagentur zwei Astronautinnen für Flüge auserkoren, sie letztlich aber nicht starten lassen. Bis heute hat die Bundesrepublik daher keine Frau ins All gebracht.

Auch für bisherige Experimente, zum Beispiel auf der ISS, hatte das DLR stets männliche Phantome im Einsatz. Die Strahlengefahr für Frauen unterscheidet sich allerdings deutlich, und auch die Grenzwerte, die die Nasa für die Belastung ihrer Astronautinnen auf der ISS festgelegt hat, sind anders als bei männlichen Kollegen: "Frauen haben durch ihre höhere Brust- und Lungenkrebsinzidenz ein größeres Risiko", sagt Thomas Berger, Leiter der Arbeitsgruppe Biophysik am Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin des DLR in Köln. "Deshalb haben wir nun weibliche Phantome ausgewählt."

Nun also Helga.

Sie macht sich gerade in Köln zum Start bereit. Berger und sein Team haben sie in den USA bestellt. Geliefert wurde der Torso in Form von 38 Scheiben. Eine jede besteht aus Kunststoff, allerdings variiert dessen Dichte innerhalb der Scheiben stark. Dadurch können Organe und Knochen simuliert werden. Die menschliche Lunge, sagt Berger, sei zum Beispiel weit weniger kompakt als andere Körperteile. Daher sei die Dichte des Kunststoffs dort deutlich geringer.

Alle drei Zentimeter befinden sich in Helga winzige Aussparungen im Kunststoff. 5600 Kristalle haben die DLR-Fachleute dort mit einer Pinzette abgelegt, jeder einzelne musste dokumentiert werden. Die Kristalle schlucken die Strahlung, die während des anstehenden Flugs auftrifft. Werden sie später erhitzt, geben sie Licht entsprechend der Strahlungsmenge ab. Dadurch können die Forschenden exakt ermitteln, wie viel Strahlung jeder Punkt des Körpers - und damit jedes Organ - abbekommen hat. Hinzu kommen 16 aktive Sensoren, die alle fünf Minuten die aktuelle Strahlenbelastung ermitteln: in Lunge, Magen, Knochenmark und Gebärmutter.

Raumfahrt: Im Vordergrund Helga, hinten Zohar mit Schutzweste.

Im Vordergrund Helga, hinten Zohar mit Schutzweste.

(Foto: DLR)

Denn wer in solch ein Raumschiff einsteigt, egal ob zum Mond oder zum Mars, muss sich auf einiges gefasst machen. Unentwegt prasselt auf Raumfahrende die sogenannte galaktische kosmische Strahlung ein. Ihre geladenen Teilchen - vom Wasserstoffkern bis zum schweren Eisen-Ion - sind so etwas wie der Strahlungshintergrund der Galaxis, hervorgerufen von explodierenden Sternen. Treffen diese Teilchen auf menschliches Gewebe, kann es gefährlich werden. "Etwas plakativ ausgedrückt: Je höher die Strahlungsdosis durch die galaktisch-kosmische Strahlung, desto größer kann das Krebsrisiko werden", sagt Thomas Berger.

Hinzu kommen solare Stürme: Von Zeit zu Zeit schleudert die Sonne enorme Mengen hochenergetischer Teilchen ins All. Treffen sie den menschlichen Körper, kann dies zu einer akuten Strahlenkrankheit führen. Thomas Berger vergleicht den Effekt mit einem übermäßigen Sonnenbad: "Ab einer gewissen Dosis bekommen Sie auch dort einen Sonnenbrand." Nur die Folgen der Strahlenkrankheit sind schlimmer: Haare fallen aus, es kommt zu Übelkeit und Erbrechen, im schlimmsten Fall sogar zum Tod.

Auf der Erde mit ihrer schützenden Atmosphäre ist all das kein größeres Problem. Auch nicht im niedrigeren Erdorbit, wo die Internationale Raumstation ISS ihre Runden dreht. Hier schirmt das Erdmagnetfeld einen großen Teil der Strahlung ab. Anders schaut es in den Tiefen des Alls aus. Dort droht, heißt es bei der Nasa, eine bis zu 150-mal so hohe Strahlenbelastung wie auf der Erde. Das damit verbundene Risiko gilt als entscheidender und womöglich limitierender Faktor für Ausflüge zum Mond und darüber hinaus.

Beim anstehenden Artemis-Testflug, der im Juni ohne Menschen an Bord abheben soll, ist Helga nicht allein. Mit ihr fliegt Zohar, ein identischer, ebenfalls 95 Zentimeter großer Dummy. Berger und sein Team haben die beiden sogar in einen Computertomographen gesteckt, um sicherzugehen, dass sich alle Kunststofforgane an denselben Stellen befinden. Einziger Unterschied: Zohar trägt eine Strahlenschutzweste, die Israel zu dem Gemeinschaftsprojekt beisteuert.

Helga fliegt ungeschützt, während Zohar ihre Sensoren unter der Weste verbergen kann

Die Weste, die neben dem Oberkörper auch die Gebärmutter abdecken soll, besteht aus Polyethylen, einem Kunststoff mit hoher Dichte. Angeordnet in vier bis acht Zentimeter großen Sechsecken, soll sich das Material schuppenartig an den Körper anpassen und dabei die Strahlung möglichst dicht abschirmen. Die Weste, Astrorad getauft, ist dabei kein Leichtgewicht. 26 Kilogramm bringt sie am Boden auf die Waage, angelegt werden soll sie aber ohnehin nur in der Schwerelosigkeit. Wie gut sie passt und wie hoch der Tragekomfort ist, testen gerade Astronautinnen auf der ISS.

Auf Mondflügen könnte solch eine Weste vor allem während gefährlicher Sonnenstürme und wegen der dabei drohenden Strahlenkrankheit nützlich sein. Orion, die neue US-Mondkapsel, verfügt für solche Fälle erstmals über eine Art Strahlenschutzbunker: Die Crew kann sich unter dem Boden des Raumschiffs verkriechen und sich mit Säcken voll Wasser oder Lebensmitteln abschirmen. Sonnenstürme können aber mehrere Tage dauern. Müssen die Astronautinnen und Astronauten währenddessen ihren improvisierten Bunker verlassen, zum Beispiel für Steuermanöver, könnte eine Weste helfen.

Um deren abschirmende Wirkung im Detail zu verstehen, fliegt Helga ungeschützt, während Zohar ihre Sensoren unter der Weste verbergen kann. Potenziell tödliche Sonnenstürme gibt es allerdings nicht auf Bestellung. Ob während des Artemis-Flugs, der bis zu 42 Tage lang dauern kann, einer toben wird, ist offen. Immerhin, in den vergangenen Monaten war die Sonne recht aktiv. "Die Chance auf einen Sonnensturm ist daher gar nicht so schlecht", sagt Thomas Berger. "Wir würden uns jedenfalls freuen, wenn etwas passiert."

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