Zuerst war es nur etwas Wasser. Am 9. April 2014 um 17 Uhr entdeckten Angestellte im Atomkraftwerk Fessenheim im Elsass Pfützen im Zugang zum Kontrollraum von Reaktor 1; ein Abfluss war verstopft, nachgefülltes Kühlwasser lief über. Dann stellten sie fest, dass auch Wasser in die drei tieferen Gänge gelaufen war. Dort aber standen Schaltschränke, in denen Sicherheitselektronik untergebracht war. Der Elektronik tat das Wasser nicht gut, Alarm wurde ausgelöst. Bis dahin nur ein kleiner Störfall, nichts allzu Ungewöhnliches in Frankreichs ältestem Atommeiler. Aber es war erst der Anfang.
Was dann folgte, ist nach Recherchen von SZ und WDR nicht mehr Routine, sondern eine Abfolge von technischem Versagen und Chaos, die es so in der Region selten gegeben hat. Man kann das in einem Brief mit Fragen und Aufforderungen zu dem Vorfall nachlesen, den die französische Atomaufsicht ASN am 24. April 2014 an den damaligen Chef des Kraftwerks schickte.
Demnach schilderte das Personal den Ablauf folgendermaßen: Zunächst habe man versucht, die Steuerstäbe von Reaktor 1 zu bewegen. Das sind Röhren, die ein Absorptionsmaterial enthalten: Je weiter man sie im Reaktorkern versenkt, desto langsamer läuft die Kernreaktion ab, so kann die Leistung geregelt werden. Diese Steuerstäbe waren aber anscheinend manövrierunfähig - jedenfalls sei der Versuch, sie abzusenken, "nicht schlüssig" verlaufen.
Gleichzeitig wurde festgestellt, dass das Wasser in den Schaltschränken offenbar eines der beiden parallelen Sicherheitssysteme außer Gefecht gesetzt hatte. Das einberufene Krisen-Team entschied darum, den Reaktor abzuschalten. Am Ende wurde der Reaktor per Einleitung von Bor ins Kühlsystem heruntergefahren.
Selbst die Notabschaltung funktionierte nicht reibungslos
Der Vorfall wurde auf der internationalen INES-Skala für nukleare Ereignisse, die von null bis sieben reicht, nur mit Stufe 1 bewertet. Trotzdem macht der Ablauf nachdenklich, wenn man die Details betrachtet - die freilich nicht annähernd aus der knappen Mitteilung der Atomaufsicht hervorgingen, von einer Bor-Notabschaltung war darin nicht die Rede.
"Mir ist kein Fall bekannt, wo ein Leistungsreaktor hier in Westeuropa störfallbedingt durch Zugabe von Bor abgefahren werden musste", sagt Manfred Mertins. Er ist seit Jahrzehnten Sachverständiger für Atomkraftwerke, lange war er für die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit tätig, die im Auftrag des Bundes die Sicherheit von AKWs bewertet. "Das Ereignis zeigt, dass die betriebliche Abschaltung nicht mehr möglich war, sodass andere Mittel in Angriff genommen werden mussten."
Eigentlich sollte es immer noch möglich sein, die Steuerstäbe, manövrierfähig oder nicht, in den Reaktorkern fallen zu lassen und so abzuschalten; eine vorgeschriebene Schutzvorkehrung. Ob das möglich gewesen wäre, ist unklar: Die Atomaufsicht erkundigt sich in ihrem Brief, ob das System einsatzfähig war oder nicht. Ob und wie man darauf reagiert hat, oder wie es allgemein um die Sicherheit von Fessenheim bestellt ist, war jedoch auf Anfrage weder bei der ASN noch bei Électricité de France (EDF) in Erfahrung zu bringen, die Fessenheim betreibt.
Hinzu kommt, dass selbst die Bor-Notabschaltung nicht ganz glatt funktionierte: In ihrem Brief moniert die Aufsichtsbehörde auch, dass das Wasser im inneren Kühlkreislauf dabei stärker abkühlte als vorgesehen. Manfred Mertins hält das für problematisch: Dass die Temperatur so aus dem Ruder gelaufen sei, deute darauf hin, dass man im Kraftwerk minutenlang keine Informationen über den Zustand des Reaktorkerns hatte. Die Erklärung aus Fessenheim: Der Reaktor hing noch am Stromnetz, das habe zum Temperaturabfall geführt. Das macht es jedoch wenig besser, denn eigentlich sollte der Reaktor in so einem Fall vom Netz getrennt werden, aber auch das ist offenbar nicht passiert.
Seit 2010 allein 16 Stör-Vorfälle der Stufe 1
Das Ereignis von 2014 zeige wieder, dass die aktuelle Situation nicht hinnehmbar sei, sagt Grünen-Chefin Simone Peter: "Ein Betreiber, der wie ein Hasardeur agiert, eine Aufsicht, die beide Augen zudrückt, und ein AKW, das aus dem letzten Loch pfeift." Seit Langem fordern nicht nur die Grünen, sondern auch Bürgerinitiativen in Frankreich und Deutschland, das grenznahe Atomkraftwerk abzuschalten. Das soll auch geschehen, aber offen ist, wann. Zuerst war das Ende für 2016 geplant, inzwischen heißt es: 2018. Womöglich sogar erst, wenn der geplante neue Reaktortyp in Flamanville in Betrieb geht - aber das kann noch dauern.
"Fragt sich nur, ob uns Fessenheim nicht vorher um die Ohren fliegt", sagt André Hatz trocken. Der Sprecher des französischen Bündnisses "Stop Fessenheim" zählt aus dem Kopf eine lange Gefahrenliste auf, vom fehlenden Terrorschutz bis zur Lage, acht Meter tiefer als der nahe Rheinseitenkanal, in einer Erdbeben-Zone. Und dann die vielen Störungen, versteht sich: Seit 2010 allein 16 Vorfälle der Stufe 1.
In den vergangenen Monaten ist es ruhiger geworden, "vielleicht ist inzwischen ja alles repariert", sagt Hatz. Im Februar und März 2015 allerdings gab es eine Pannenserie, die selbst die Geduld der ASN schwer auf die Probe stellte. Zuerst platzte eine Wasserleitung. Man werde das prüfen, hieß es von EDF. Eine Woche später gab es eine ASN-Kontrolle, und noch während der Inspektion wurde das Rohrsystem wieder in Betrieb genommen, Prüfung hin oder her; so hatten sich die Kontrolleure das nicht vorgestellt. Prompt brach eine andere Leitung, wieder Überschwemmung, Alarm. Aber statt den Maschinenraum sofort zu evakuieren, blieb das Personal gelassen: Man hielt es für den allmonatlichen Probealarm. Kein Grund zur Beunruhigung.