Süddeutsche Zeitung

Frage der Woche:Zeigen Spiegel die Wirklichkeit?

Nur der Mensch und ein paar wenige Tiere können ihr Abbild im Spiegel erkennen. Doch was sehen sie beim Blick auf sich selbst?

Barbara Galaktionow

"Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?" Schneewittchens Stiefmutter wollte es ganz genau wissen - immer wieder. Die Antwort, die sie schließlich bekam, war nicht die gewünschte: "Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr."

Ihres einzigartigen Aussehens konnte sich die Stiefmutter durch den Blick in den Spiegel also nicht mehr vergewissern - aber doch immerhin ihres Selbst, das zwar durch das harte Urteil des Spiegels angekratzt, aber noch existent war. Die Stiefmutter erkannte ihr Abbild als ihr eigenes.

Ganz anders erging es in der griechischen Mythologie Narziss. Er wurde als Strafe für die Zurückweisung der Liebe der Nymphe Echo dazu verurteilt, sich in seine eigene Widerspiegelung im Wasser zu verlieben - und nahm fortan sein Abbild als eine andere Person wahr.

Überhaupt ist die Fähigkeit, sich selbst im Spiegel zu erkennen, nur wenigen Lebewesen gegeben: Einige Menschenaffen, Delphine und Elefanten sind nach bisherigen Erkenntnissen dazu in der Lage, zudem - als einziges bislang bekanntes Nicht-Säugetier - die Elster.

Die Tiere zeigen vor einem Spiegel deutliche Zeichen der Selbstwahrnehmung: Sie versuchen, ihnen heimlich beigebrachte Farbtupfer zu entfernen, oder inspizieren Körperregionen, die sie sonst nicht zu Gesicht bekämen.

Doch welche Gründe sind für die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung im Spiegel ausschlaggebend? Dieser Frage sind Forscher immer noch auf der Spur - es gibt Hinweise, doch keine hinreichenden Bedingungen.

Selbsterkenntnis und soziales Miteinander

Zwei Faktoren scheinen jedoch wesentlich zu sein: Das Gehirn muss einen gewissen Entwicklungsgrad aufweisen - wenn auch die Aufnahme der Elster in den Klub der Selbsterkenner im vergangenen Jahr hier wieder einige Fragen aufgeworfen hat . Und die Lebewesen müssen über ausgeprägte soziale Fähigkeiten verfügen, die erst im täglichen Miteinander erlernt werden.

"Die Entwicklung des Selbstkonzepts scheint an soziale Erfahrungen gebunden zu sein: Nur in der Gemeinschaft entwickelt sich das Selbst", schreibt der Schweizer Kinderarzt und Entwicklungspädiater Remo H. Largo in seinem Buch "Babyjahre".

So sei bei Schimpansen festgestellt worden, dass die Entwicklung der Selbstwahrnehmung ausblieb, wenn die Tiere in Isolation aufwuchsen. Die Tiere können sich dann auch nicht im Spiegel wahrnehmen. Ähnliches wird von Delphinen und Elefanten berichtet.

Und auch Menschen kommen nicht mit der Befähigung zur Welt, sich selbst im Spiegel zu erkennen - erst mit der Entwicklung der Ich-Wahrnehmung zwischen 18 und 24 Monaten setzt bei Kindern diese Fähigkeit ein.

Doch was sieht der Mensch, wenn er sich selbst im Spiegel betrachtet? Ein realitätsgetreues 1:1-Abbild seiner selbst? Offenbar nicht. Die Spiegelung der Welt ist sehr viel komplexer, als man auf den ersten Blick wahrnimmt - eine zweidimensionale Abbildung, die jedoch vom Gehirn als dreidimensionale interpretiert wird.

"Das Objekt im Spiegel ist virtuell, aber für die Augen existiert es genauso wie irgendein anderes Objekt", beschrieb Marco Bertamini von der University of Liverpool den besonderen Charakter der Spiegelungen in der New York Times (NYT, 22.7.2008). Der Psychologe erforscht gemeinsam mit Wissenschaftlerin Rebecca Lawson und anderen Kollegen seit Jahren in zahlreichen Studien die Wahrnehmung von Spiegelbildern in Spiegeln und Fenstern.

Seinen Untersuchungen zufolge schätzen die meisten Menschen allein schon die Größe ihres Abbilds falsch ein: Fast alle gehen davon aus, dass die Größe ihres Spiegelbilds ihrer realen Größe entspricht und sich mit verändertem Abstand zum Spiegel vergrößert oder verkleinert - eine Täuschung, so Bertamini.

Geschöntes Selbst

Denn unabhängig vom Abstand zum Spiegel bleibe das eigene Abbild immer gleich groß, da der Spiegel immer auf halber Strecke zwischen dem realen und dem projizierten Selbst liegt - und die Spiegelung ist immer deutlich kleiner als der reale Körper. Die Menschen unterliegen bei der Betrachtung ihrer Widerspiegelung also offenbar einem Trugschluss (DOI: 10.1016/j.cognition.2004.11.002).

Welche Schnippchen die Spiegelbildwahrnehmung den Menschen schlagen kann, zeigt sich jedoch nicht nur bei der Beurteilung der eigenen Größe, sondern auch bei der Einschätzung der eigenen Schönheit: Menschen erkennen ihre eigenen Porträts unter einer Reihe von Fotos sehr viel schneller, wenn diese im Computer attraktiver gemacht wurden, fanden Nicholas Epley von der University of Chicago und Erin Whitchurch von der University of Virginia heraus (DOI: 10.1177/0146167208318601).

In welchem Ausmaß die Bilder geschönt werden müssen, ist demnach allerdings abhängig vom impliziten Selbstbild der Person. Fremde Personen werden jedenfalls schneller wiedererkannt, wenn ihre Fotos nicht positiv verändert wurden.

Doch warum scheinen wir nicht bereit, bei uns das Offensichtliche anzuerkennen, warum nehmen wir uns attraktiver wahr als wir offenbar für andere sind? Die Forscher erklären das damit, dass wir nicht immer gleich aussehen - und die Menschen die Mehrdeutigkeit ihres Gesichts dann im Durchschnitt zu ihren Gunsten auslegen.

Doch Spiegelbilder werden von den Menschen nicht nur unterschiedlich wahrgenommen, sondern beeinflussen auch deren Verhalten. Sie verändern also die Realität - und zwar oft zum Positiven. So kann ein großer Spiegel im Raum Einfluss auf das Verhalten der Menschen haben, wie die Psychologen C. Neil Macrae, Galen V. Bodenhausen, Alan B. Milne in einer Studie zeigten (NYT, 22.7.2008).

Im Angesicht ihres Spiegelbilds arbeiteten die Probanden härter, waren hilfsbereiter und weniger bereit zu betrügen als eine Vergleichsgruppe ohne Spiegel. Zudem beurteilten sie andere weniger auf Basis sozialer Stereotype wie Geschlecht, Rasse oder Religion. Die physische Widerspiegelung bestärkte also die mentale Selbstreflektion - und das daraus hervorgehende Handeln.

Die Menschen nehmen sich also nicht nur selbst als schöner wahr, sondern versuchen - mit sich selbst konfrontiert - also offenbar auch, sich einem positiven Bild anzugleichen. In dieser Hinsicht war der Spiegel, in den Schneewittchens Stiefmutter blickte, vielleicht einfach nicht groß genug.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.390813
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
sueddeutsche.de/bön
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.