Frage der Woche:Wieso war Darwin kein Darwinist?

Der Schöpfer der Evolutionstheorie war von seiner Idee der natürlichen Selektion überzeugt. Doch ein "Darwinist" war er nie. Im Gegenteil.

Markus C. Schulte von Drach

Charles Darwin hatte bereits in den Jahren nach 1840 seine Theorie zum Ursprung der Arten durch Mittel der natürlichen Selektion entwickelt - doch bis 1858 hielt er seine Idee geheim. Erst als Alfred Russel Wallace, ein weiterer britischer Naturforscher, ebenfalls eine Theorie zur Entstehung neuer Arten vorstellte, sah er sich gezwungen, seine Gedanken endlich zu veröffentlichen.

Frage der Woche: Streit um die Selektion: Charles Darwin (im Vordergrund) und Alfred Wallace.

Streit um die Selektion: Charles Darwin (im Vordergrund) und Alfred Wallace.

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Es war die Sorge um mögliche Reaktionen auf seine revolutionäre Vorstellung einer Evolution gewesen, die Darwin hatten zögern lassen - nicht etwa Zweifel an seiner Theorie. Man hätte demnach erwarten können, dass der britische Naturforscher die Bildung einer Gruppe von Darwinisten in England begrüßt hätte.

Doch dem war nicht so. Denn die Darwinisten hingen nicht seiner Theorie an, sondern der seines Kollegen und Konkurrenten Wallace.

Wallace selbst hatte zwar den Begriff des Darwinismus geprägt. Doch seine Vorstellung von der Evolution, die Wallace als Darwinismus bezeichnete, unterschied sich in einem bestimmten Punkt gravierend von der seines Kollegen - so gravierend, dass Darwin, sich deutlich davon distanzierte.

Wallace ging wie Darwin davon aus, dass der Nachwuchs der Vertreter einer Art eine große Bandbreite von Variationen aufwies, und dass von diesen jene sich am stärksten fortpflanzen würden, die aufgrund ihrer Eigenschaften - sprich: Merkmale - am besten angepasst waren.

Streit um die Rolle der Selektion

Doch Wallace war vollständig überzeugt davon, dass wirklich JEDES Merkmal eine Folge der natürlichen Selektion war. Jedes Glied, jedes Organ, jede Verhaltensweise war seiner Ansicht nach eine direkte Anpassung an die Umwelt, eine Waffe im Kampf um das Überleben.

Und fand man keine entsprechende Erklärung für ein Merkmal, so lag dies Wallace zufolge einfach daran, dass man sie eben NOCH nicht gefunden hatte.

Darwins Ansatz dagegen ging zwar davon aus, dass natürliche Selektion zur Ausbildung von Merkmalen führte. Darüber hinaus aber nahm er an, dass manche Eigenschaften KEINE Anpassung darstellten und die Chancen, zu überleben, nicht direkt verbesserten.

Darwin vermutete vielmehr, dass die Entwicklung bestimmter Merkmale unter dem Druck der Selektion auch zu Veränderungen in anderen Teilen des Organismus führen könnten. Diese wiederum könnten zwar als Grundlage für weitere Anpassungen dienen - sie selbst aber mussten keinen direkten Selektionsvorteil darstellen.

Auch in Bezug auf die sogenannte sexuelle Selektion waren sich die Forscher uneins. So betrachtete Darwin Merkmale wie die langen Schmuckfedern eines Pfaus als für den Vogel hinderlich, wenn es um den Kampf ums Überleben ging.

Doch er nahm an, dass aus ihm noch nicht verständlichen Gründen Weibchen Partner mit solchen Merkmalen bevorzugten, so dass auch in der nächsten Generation wieder männliche Tiere mit langen - vielleicht sogar längeren - Schwanzfedern auftraten. Mit dieser Idee aber konnte sich Wallace nicht anfreunden. Der Wunsch der weiblichen Tiere war für seine Vorstellung zu wenig relevant für das Überleben.

Deus ex Machina

Um seine Theorie mit der Selektion als einzigen wirksamen Faktor zu retten, brachte Wallace schließlich sogar wieder Gott ins Spiel. Denn der "Darwinist" hatte ein Problem.

Ein Vergleich von "wilden" und "zivilisierten" Menschen war für Wallace ein Beleg dafür, dass primitive Gesellschaften und die europäische Kultur auf prinzipiell gleich ausgestattete Gehirne zurückgingen. Doch wenn ein "Wilder" ein genauso gut ausgerüstetes Gehirn besaß wie ein Europäer, dessen Kapazitäten jedoch ganz offensichtlich nicht nutzte, dann war es Wallace' Theorie zufolge von der Anlage her eigentlich zu groß.

Das Gleiche galt natürlich für unsere primitiven Vorfahren. Wie konnte ein Gehirn mit der Fähigkeit, Hochkulturen zu errichten, sich entwickeln, ohne dass ein entsprechender Selektionsdruck existierte?

Es musste demnach eine Intelligenz geben, die "die Entwicklung des Menschen in eine bestimmte Richtung und zu einem besonderen Zweck gelenkt hat." (Zitiert nach Steven Jay Gould, 1980.)

Wie einen Deus ex Machina ließ Wallace tatsächlich Gott auf die Bühne der Naturforschung herabschweben - und plötzlich ging seine Theorie wieder auf.

Für Darwin dagegen war durchaus vorstellbar, dass ein Organ wie unser Gehirn sich unter einem selektiven Druck - vielleicht der optimalen Nahrungsbeschaffung - entwickelt haben konnte. Zugleich hätten Eigenschaften entstehen können, die über den eigentlichen Zweck hinausgehende Möglichkeiten boten.

Durchgesetzt hat sich, wie man weiß, schließlich die Theorie Darwins - und nicht die der Darwinisten.

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