Frage der Woche:Wie viel Gehirn braucht der Mensch?

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Hirnjogger legen uns nahe, wir hätten noch ein riesiges Potential in unseren grauen Zellen. (Ge) brauchen wir gar nicht unser komplettes Denkorgan?

Berit Uhlmann

Man findet sie gerne in Selbsthilfe-Literatur der trivialeren Art: die Aussage, dass der Mensch nur zehn Prozent seines Gehirns nutze und folglich ein riesiges Entwicklungspotential habe. Aber auch wer in den medizinischen Annalen sucht, stößt auf Fallberichte, wonach der Mensch angeblich nur einen Bruchteil seines Gehirns wirklich braucht.

Lässt sich das Gehirn beliebig tunen? (Foto: Foto: dpa)

Am spektakulärsten war der Fall, den der britische Arzt John Lorber 1980 präsentierte: Einer seiner Patienten mit Hydrocephalus ("Wasserkopf") habe "praktisch kein Gehirn". Der junge Mann verfüge über "nicht mehr als fünf Prozent" der normalen Gehirnmasse, habe dennoch einen IQ von 126, studiere erfolgreich Mathematik und führe ein uneingeschränktes soziales Leben.

Die Geschichte vom hirnlosen Genie stößt bis heute auf Sympathien bei medizinischen Laien, die meisten Wissenschaftler jedoch schenken ihr keinerlei Glauben. Die Hirnaufnahmen die Lorber vorlegte, sind schlicht nicht aussagekräftig genug. Der kanadische Wissenschaftsautor Jay Ingram fand später Aufnahmen, die den Schädel des jungen Mannes aus anderem Blickwinkeln zeigten - und plötzlich sah das Hirn größer aus: Ingram schätzte sein Volumen auf ungefähr 50 Prozent. Damit nähert sich der Fall der Grenze des Realistischen.

Denn es gibt tatsächlich Menschen, die mit nur einem halben Gehirn leben. Wenn Kinder an extrem schweren und medikamentös nicht zu behandelnden Formen von Epilepsie leiden, entfernen Ärzte mitunter eine Hälfte des Großhirns - komplett oder zu einem großen Teil.

Die sogenannte Hemisphärektomie ist die Ultima ratio der Hirnchirurgie, der Eingriff kann Komplikationen bis hin zum Tod verursachen. Was allerdings nicht passiert: Dass mit dem Gehirn automatisch auch die kognitiven Fähigkeiten der Patienten halbiert werden.

Mediziner des Johns Hopkins Hospital im amerikanischen Baltimore beispielsweise haben die Leistungen ihrer Patienten etwa fünf Jahre nach der Operation ausgewertet: Bei 31 Kindern mit einer speziellen Form von Epilepsie (Rasmussen-Enzephalitis) nahm der Intelligenzquotient von vorher durchschnittlich 81auf 76 nach dem Eingriff ab. Immerhin ein knappes Drittel war in der Lage, eine normale Schule zu besuchen. Je jünger die Kinder zum Zeitpunkt der OP waren, umso besser entwickelten sie sich.

Wie es zu der Annahme kam, der Mensch nutze nur zehn Prozent seines Gehirns lesen Sie auf Seite 2.

Daran zeigt sich, dass mit dem Aufwiegen von Gehirnen allein wenig erkannt ist. Das Gehirn ist dynamisch, die Verbindungen seiner 100 Milliarden Nervenzellen befinden sich in einem ständigen Um- und Ausbau. Sie können damit auch Verluste kompensieren - allerdings mit zunehmendem Alter immer weniger.

Und so gibt es auch konträre Beispiele zur Hemisphärektomie: Bei manchen Erwachsenen wird nur ein kleines Hirnareal geschädigt, und es kommt zu irreparablen, mitunter bizarren Störungen. Recht berühmt wurde der Fall einer Schlaganfallpatientin, die keine Bewegungen mehr wahrnehmen konnte. Ihre Welt bestand aus einer Reihe von springenden Standbildern, ausgelöst von einer Läsion in einem kleinen Teil des Sehzentrums.

Derartige Fälle sind die Antwort der Neuropsychologie auf die Zehn-Prozent-Theorie vom Hirn. Wissenschaftler beobachten immer wieder, dass zumindest bei Erwachsenen jede größere Gehirnschädigung eine mehr oder minder ausgeprägte Konsequenz hat. Hätte das menschliche Gehirn tatsächlich eine Reserve von 90 Prozent, sollte dies nicht der Fall sein.

Ein anderes Argument gegen die These liefert die Evolutionstheorie. Die Größe des menschlichen Gehirns hat schließlich auch Nachteile. Der große Kopf macht Geburten riskant. Das Hirn verbraucht zudem 20 Prozent des Sauerstoffes im Körper, obwohl es nur zwei Prozent des Körpergewichtes ausmacht. Würde der Mensch tatsächlich ein solch hungriges Organ mit sich herumschleppen, wenn er nur ein Zehntel davon braucht?

Auch moderne bildgebende Verfahren lassen eine stille Reserve nicht erkennen. Lässt man Probanden genügend Tätigkeiten ausführen und registriert ihre Hirnaktivitäten dabei, zeigt sich, dass jeder Kubikzentimeter aktiv ist, viele sogar mehrfach bei unterschiedlichen Aufgaben.

Der Mensch braucht also nicht zwangsläufig die vollen 100 Prozent des Hirns. Abhängig vor allem von seinem Alter kann er auch größere Verluste verschmerzen. Nach allem was die Wissenschaft bislang weiß, gebraucht er jedoch prinzipiell das gesamte Gehirn. Für die Zehn-Prozent-These findet sich dagegen kein Beweis.

Und sie war wohl ursprünglich auch anders gemeint. Die These geht vermutlich auf eine Äußerung des amerikanischen Psychologen William James Anfang des 20. Jahrhunderts zurück. Der aber wollte lediglich sagen, dass im Alltag Routine, Erschöpfung und gesellschaftliche Konventionen die Menschen hindern, ihre Möglichkeiten hundertprozentig auszuschöpfen.

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