Stammesgeschichte des Menschen:Wer war Adam?

Australopithecus sediba

Paläoanthropologen finden immer wieder Fossilien zuvor unbekannter Arten ausgestorbener Menschenaffen und Urmenschen. 2010 stießen Forscher in einer Höhle in Südafrika auf das teilweise erhaltene Skelett eines Australopithecinen, der vor etwa zwei Millionen Jahren lebte. Sie ordneten den Fund einer neuen Art zu: Australopithecus sediba.

(Foto: dpa/Brett Eloff/Lee Berger/Uni Witwatersrand)

Seit mehr als 150 Jahren versuchen Wissenschaftler zu klären, seit wann es Menschen gibt und woher wir kommen. Aber lässt sich das überhaupt herausfinden?

Von Markus C. Schulte von Drach

Nachdem Charles Darwin 1859 aufgrund seiner Evolutionstheorie zu der Erkenntnis gekommen war, dass der Mensch vom Affen abstammt, haben Forscher nach dem "Missing Link" gesucht - dem fehlenden Bindeglied zwischen dem Homo sapiens und seinen nichtmenschlichen Vorfahren. Und tatsächlich wurden seitdem immer wieder versteinerte Knochen von Urzeitmenschen mit Eigenschaften entdeckt, die als "primitiv" betrachtet wurden.

Jeder Fund eines Fossils, das sich von der Anatomie her irgendwie zwischen den modernen Menschen und den Affen einordnen ließ, wurde anschließend in die Entwicklungslinie der Hominiden (Familie der Menschenaffen) eingereiht, in der Hoffnung, irgendwann einmal eine lückelose Abfolge zu erhalten.

So war der Entdecker des Java-Menschen, der Niederländer Eugene Dubois, 1891 davon überzeugt, der heute als Homo erectus (der aufrechte Mensch) bezeichnete Urmensch sei das Bindeglied zwischen Mensch und Affe. 1924 sah der Australier Raymond Dart in einem Kinderschädel, der am Rand der Kalahari entdeckt worden war, einen noch älteren Vorfahren des Menschen: den Australopithecus africanus (afrikanischer Südaffe). Bereits 1856 waren bei Düsseldorf die Überreste des Neandertalers entdeckt worden - jahrzehntelang stritten die Experten darüber, ob es sich um einen Urmenschen handelte oder nicht.

Bis 1960 schließlich versuchten die Wissenschaftler, etliche weitere Funde einzuordnen: So gab es den Homo heidelbergensis, den H. rhodesiensis, den H. aurignaciensis, H. soloensis, H. primigenius asiaticus, Australopithecus transvaalensis, Sinanthropus pekinensis (Peking-Mensch), Zinjanthropus boisei (Paranthropus boisei) und weitere mehr.

Dann trat F. Clark Howell von der University of Chicago auf den Plan mit dem Vorschlag, alle Funde auf zwei Gattungen zu verteilen: Den moderneren Homo und den älteren Australopithecus. Trotz der Unterschiede, die die einzelne Skelette aufwiesen, wurden danach etliche Fossilien zum Homo erectus zusammengefasst. Und es schien klar zu sein, dass die Entwicklungslinie vom Australopithecus africanus über den Homo erectus zum Neandertaler und uns geführt hatte.

Doch mit jeder darauffolgenden Entdeckung von potentiellen menschlichen Ahnen begann die Diskussion um die Zuordnung von Neuem. Als Jonathan Leakey in der Olduvai-Schlucht in Tansania fossile Schädelknochen fand, wurde wieder eine völlig neue Art vorgestellt, die genau in die Lücke zwischen A. africanus und H. erectus zu passen schien: Homo habilis (der geschickte Mensch).

Danach sahen sich die Paläoanthropologen erneut gezwungen, ihre Entdeckungen aufgrund der Unterschiede in der Antanomie der Skelette verschiedenen Arten zuzuordnen. Es traten auf: H. ergaster, H. louisleakeyi, H. rudolfensis, H. microcranus, H. antecessor und schließlich Homo floresiensis, der berühmte, umstrittene Hobbit von der indonesischen Insel Flores.

Ursprünge im Dunkeln

Und neben der berühmten "Lucy", die der Amerikaner Donald Johanson 1974 im Afar-Dreieck in Äthiopien entdeckt und als Australopithecus afarensis bezeichnet hatte, wurden etliche weitere Australopithecinen entdeckt: A. amensis, A. walkeri, A. praegens, A. aethiopicus (auch Paranthropus aethiopicus), A. bahrelghazali, A. garhi und A. sediba.

Dazu kam 1999 ein Zeitgenosse "Lucys", der Kenyanthropus playtops aus Kenia, auch "Flat Faced Man" genannt, von der manche Wissenschaftler glauben, es handele sich nicht um eine eigene Gattung, sondern ebenfalls um eine Australopithecinen-Art.

Vor 4,4 Millionen Jahren lebte Ardipithecus ramidus (Spitzname "Ardi"), der zuerst ebenfalls als Australopithecus eingeordnet worden war.

Geht man weiter zurück bis in die Zeit vor sechs bis zehn Millionen Jahren, in der sich die mehr menschenähnlichen Ur-Affen von ihren mehr affenähnlichen Verwandten abgespalten haben sollen, so sind der Sahelanthropus tchadensis und Orrorin tugenensis heiße Kandidaten auf die Position als unser ältester Vorfahre.

Doch allein die Vielfalt der eindeutigen und mutmaßlichen Hominiden-Arten, die in den vergangenen Millionen Jahren die Erde bevölkert und deren fossile Überreste man entdeckt hat, belegt, wie schwierig es ist, unsere Vorfahren in eine eindeutige Abstammungslinie zu stellen. Klar scheint, dass Homo sapiens, der moderne Mensch, vor etwa 160.000 Jahren entstanden sein dürfte - und es herrscht große Einigkeit, dass unser direkter Vorfahre ein Homo erectus war.

Doch dann lassen sich die Verhältnisse nicht mehr so einfach entschlüsseln. Das liegt vor allem in der extrem geringen Zahl der Funde, die in der Regel nur Bruchstücke von Skeletten darstellen - und zwar von nicht mehr als einigen tausend Individuen. Alle diese Fossilien zusammen würden in einen Altkleiderkontainer passen. Und die Urmenschen, zu denen sie gehören, lebten verteilt über einen Zeitraum von mehreren Millionen Jahren.

Dazu kommt, dass einige Menschenarten zeitgleich gelebt haben. So ist zum Beispiel nicht entschieden, ob "Lucy" in die direkte Linie zwischen den Affen und uns gehört, oder doch der "Flat Faced Man". Und es könnte auch ein ganz anderer Zeitgenosse dieser Arten gewesen sein, der bislang noch gar nicht entdeckt wurde.

SCIENCES-PALEONTOLOGIE-TCHAD

Der Schädel des Sahelanthropus tchadensis - der älteste bekannte Urmensch?

(Foto: AFP)

Das Gleiche gilt für die Zeit vor etwa zwei Millionen Jahren. Damals lebten mehrere Menschenarten gleichzeitig in Afrika. Wie viele es tatsächlich waren, werden wir vermutlich niemals erfahren. Denn Fossilien tauchen nicht gleichmäßig verteilt in aller Welt auf, sondern in erster Linie an bestimmten Orten, wo die Bedingungen dazu führten, dass die Knochen der Frühmenschen versteinerten.

Es gibt kein "Missing Link"

Fossilien des Australopithecus afarensis etwa kennen wir nur aus Tansania und Äthiopien. Vielleicht aber hat eine andere Art, die bereits damals menschenähnlicher war, anderswo in Afrika existiert? Der Australopithecus africanus zum Beispiel, der zeitlich nach "Lucy" aufgetreten ist, wurde bislang nur in Südafrika entdeckt. Fossilien von Homo habilis, H. ergaster und H. rudolfensis wiederum sind in Kenia und Tansania gefunden worden.

Wo befand sich die Wiege der Menschheit?

Überhaupt stammen die meisten Fossilien von Urmenschen, die älter sind als Homo erectus, aus dem östlichen und südlichen Afrika - insbesondere aus dem Ostafrikanischen Graben, dem Rift Valley. Stand die Wiege der Menschheit demnach dort? Fand hier die Entwicklung vom Affen zum Menschen statt? Oder waren einfach nur die Bedingungen ideal für die Versteinerung von Knochen - und unsere eigentlichen Vorfahren haben doch woanders gelebt?

Berücksichtigt man, wie die Evolution und insbesondere die Artbildung "funktionieren", so muss man sich die Menschwerdung vermutlich folgendermaßen vorstellen: Irgendwann vor sechs bis zehn Millionen Jahren traten in einer Affenpopulation in Afrika Individuen auf, die ein Merkmal besaßen, dass sie ein wenig menschenähnlicher machte als ihre Artgenossen. Vielleicht war es die Fähigkeit, die Bäume für längere Zeit zu verlassen.

Diese Eigenschaft erwies sich als Fortpflanzungsvorteil gegenüber den Artgenossen. Nach und nach führten weitere vorteilhafte Veränderungen bei diesen Tieren zu immer größeren Unterschieden zur ursprünglichen Art.

Eine neue Art entstand, die neue Lebensräume erschloss oder die Vertreter der alten Art verdrängte. Über die Jahrmillionen wiederholte sich dieser Prozess, wobei zu jeder Zeit mehrere Ur-Menschen-Arten existiert haben dürften. Zuletzt war dies offenbar vor einigen zehntausend Jahren der Fall, als Homo sapiens und Homo neanderthalensis nebeneinander existierten.

Die Suche nach dem einen "Missing Link" war und ist deshalb vergeblich, und ob wir anhand von Fossilien eines Tages die richtige Entwicklungslinie aufstellen können, ist fraglich.

Auf der anderen Seite bestätigen die Erkenntnisse der Paläoanthropologen wunderbar die Theorie des Charles Darwin. Je weiter wir in der Vergangenheit zurückgehen, umso mehr ähneln die Fossilien denen von Affen. Dabei würde nur ein einziger Schädel mit den Eigenschaften eines modernen Homo sapiens, datiert auf die Zeit von vor einer Millionen Jahre, reichen, um die Evolutionstheorie eindeutig zu widerlegen. Doch bislang konnte ein solcher Adam nicht entdeckt werden. Und vieles spricht dafür, dass dies so bleiben wird.

(Dieser Text wurde ursprünglich am 16.06.2008 als "Frage der Woche" veröffentlicht und am 9. Januar 2013 aktualisiert.)

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