Süddeutsche Zeitung

Frage der Woche:Warum wollen wir alles anfassen?

Viele Menschen müssen einfach alles in die Hand nehmen, bevor sie es kaufen. Und Marketing-Experten versuchen zu "begreifen", wieso.

M. C. Schulte von Drach

Die deutsche Sprache sagt manchmal mehr aus über unser Verhalten als uns gemeinhin klar ist. So sprechen wir davon, etwas zu "begreifen" und meinen damit, es zu verstehen.

Warum reden wir so, wenn wir uns im Alltag doch vor allem mit Hilfe unserer Augen orientieren und selbst die Informationen, die wir über unsere Ohren erhalten, uns meist präsenter sind als das, was wir spüren?

Offenbar unterschätzen wir die Bedeutung unseres Tastsinns. Denn unbewusst, das zeigen wissenschaftliche Studien, spielt es offenbar eine wichtige Rolle, ob wir Dinge in die Hand nehmen können, wenn wir sie beurteilen wollen.

Wie sehr das für den Einzelnen gilt, zeigt zum Beispiel ein spezieller Test, den Joann Peck von der University of Wisconsin in Madison entwickelt hat. Sie hatte festgestellt, dass manche Personen, die ein Produkt bewerten sollen, unsicher und frustriert sind, wenn sie es nicht berühren dürfen. Diese Menschen, die zum Beispiel im Laden Obst in die Hand nehmen müssen, bevor sie es kaufen, landen auf Pecks "Need for Touch"-Skala (NFT) ganz oben. Andere kaufen dagegen nicht unbesehen, aber unbefingert.

Die US-Forscher Aradhna Krishna von der University of Michigan in Ann Arbor und Maureen Morrin von der Rutgers University in Camden, New Jersey, konnten kürzlich mit Hilfe dieser Skala zeigen, dass gerade bei diesen Verbrauchern das Fingerspitzengefühl sogar den Geschmack beeinflusst.

Die Wissenschaftler hatten ihren Versuchspersonen einen billigen Plastikbecher mit Wasser angeboten, das sie über einen Strohhalm trinken und dessen Geschmack sie beurteilen sollten. Die eine Hälfte durfte das dünnwandige Gefäß festhalten, die andere nicht. Tatsächlich beurteilten jene Probanden, die grundsätzlich kein großes Bedürfnis zeigten, Dinge zu berühren, das Wasser schlechter, wenn sie den Becher nicht festhalten durften.

Die Forscher vermuten, dass sie sich aufgrund der mangelnden Erfahrung ihres Tastsinns unbewusst stärker von den negativen Eindrückenden des qualitativ minderwertigen Bechers ablenken ließen.

Demnach lassen sich jene, die von vornherein dazu tendieren, Produkte anzufassen, weniger beeinflussen von dem, was sie tatsächlich in die Hand nehmen. Berührung spielt also grundsätzlich eine Rolle, nur ihr Einfluss ist unterschiedlich stark. Psychologen erklären sich diesen Effekt damit, dass es eine Art psychologisches Besitzen gibt, das über das Besitzen im juristischen Sinne hinausgeht. So schätzen Verbraucher Dinge als wertvoller ein, wenn sie endlich ihr Eigentum sind.

Das Gefühl des psychologischen Besitzens kann offenbar bereits in dem Augenblick einsetzen, in dem man etwas einfach nur berührt. Selbst die Vorstellung, etwas anzufassen, lässt Dinge in einem positiveren Licht erscheinen, wie Peck und ihr Student Victor Barger herausgefunden haben.

Von besonderem Interesse sind diese Erkenntnisse natürlich für Werbestrategen. Denn wie die Wissenschaftler festgestellt haben, sind Verbraucher, die sich bereits als Besitzer fühlen, auch bereit, mehr für ein Produkt zu zahlen.

Marketing-Fachleute interessiert deshalb natürlich, wie sich Produkte so anbieten lassen, dass man sie berühren kann oder zumindest möchte. Die Herausforderung besteht demnach darin, einen Küchenmixer zum Beispiel so zu zeigen, dass der potentielle Kunde ihn am liebsten knuddeln und ihm zu Hause ein eigenes Zimmer einrichten möchte.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse gewinnen gerade in Zeiten des Online-Shoppings an Bedeutung. Einerseits ist es unmöglich, die Kunden im Internet Produkte anfassen zu lassen. Aber anstatt eine trockene Liste von Eigenschaften zu präsentieren, können Anbieter versuchen, den potentiellen Kunden in seiner Phantasie zum glücklichen Besitzer zu machen. Dann ist er auf dem richtigen Wege.

Dem kaufbereiten Surfer ist dagegen zu raten, sich auf die Eigenschaften der Produkte zu konzentrieren und sich nicht ablenken zu lassen. Dann ist die Enttäuschung nicht so groß, wenn der erworbene Mixer sich als eiskaltes und charakterloses Gemüsemetzelmonster ohne Herz erweist.

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