Süddeutsche Zeitung

Frage der Woche:Warum träumen wir?

Manchmal können wir im Schlaf fliegen, aber häufiger versetzen uns unsere bizarren Träume in Angst und Schrecken. Steckt dahinter ein tieferer Sinn?

Markus C. Schulte von Drach

Träume gehören zum Schlaf dazu. Und wer sich am nächsten Tag nicht mehr an die nächtlichen Erlebnisse erinnert, hat sie trotzdem gehabt. Warum aber träumen wir überhaupt? Welchen Zweck haben die häufig bizarren und furchtbaren Erfahrungen, die nur im Schlaf Sinn zu machen scheinen?

Einige spannende Ideen hat die Wissenschaft hier zu bieten. Eine stammt zum Beispiel von Antti Revonsuo von der Universität von Turku.

Der Finne hat herausgefunden, dass zwei Drittel unserer nächtlichen Erfahrungen sich mit unangenehmen Situationen beschäftigen - anderen Forschern zufolge sind es sogar drei Viertel -, wobei es allerdings vom Alter abhängt, wie häufig wir Albträume haben. Am meisten leiden offenbar junge Erwachsene darunter, und Frauen häufiger als Männer.

Wir wähnen uns dann in höchster Gefahr, scheinen zu stürzen, zu ertrinken, müssen vor Verbrechern oder Monstern fliehen, kämpfen oder werden in Streitereien und Unfälle verwickelt. Etwas harmloser, aber immer noch unangenehm sind die Erfahrungen, nicht zu wissen, wo man ist, wichtige Termine oder Tests verpasst zu haben, vor einer Prüfung zu stehen oder in der Zeit zu springen.

Eine Weile hatte man angenommen, dass es sich bei Träumen um unbewusste Versuche handelt, emotionale Konflikte zu verarbeiten. Dann wurde vorgeschlagen, die nächtlichen Abenteuer könnten auf das zufällige Feuern von Hirnzellen zurückgehen, dem das eingeschränkt funktionierende Bewusstsein einen Sinn zu geben versucht.

Revonsuo dagegen hält die Träume für Lektionen, die uns helfen, auf schlimme reale Ereignisse vorbereitet zu sein. Seiner Einschätzung nach handelt es sich um eine Art Sicherheitstraining für Notfallsituationen.

Gehen wir in unseren Träumen immer wieder mit beängstigenden Augenblicken um, könnte unser Gehirn in der Realität schneller auf Bedrohungen reagieren, vermutet der Psychologe.

Nächte voller Angst könnten uns demnach helfen, Tage voller Gefahren zu überstehen. Und dass wir uns an die meisten Träume nicht erinnern können, spricht nicht dagegen. Es muss uns gewissermaßen nur in Fleisch und Blut übergehen, zu reagieren - ähnlich wie es einem Sportler gelingt, durch das ständige Wiederholen bestimmter Übungen sein Können zu steigern.

Dass immerhin ein Drittel unserer Träume angenehmerer Natur ist, hält der Finne nicht für einen Widerspruch. Er sieht darin einen Nebeneffekt. Entwickelt, um Bedrohungen zu simulieren, besitzt das System einfach die Möglichkeit, auch positive Erfahrungen zu verarbeiten - selbst wenn es dazu ursprünglich nicht entstanden ist.

Traum als Lernhilfe

Doch nicht alle Forscher sind überzeugt von Revonsuos Idee. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass Träume uns helfen, Erlerntes zu vertiefen, indem wir es im Schlaf gewissermaßen erneut durchleben. Dies scheint zumindest für Prozesse zu stimmen, die wir nicht bewusst erleben. Darauf deuten zum Beispiel Erfahrungen mit Menschen, die nicht in der Lage sind, Erinnerungen im Langzeitgedächtnis abzuspeichern.

Haben diese über längere Zeit Tetris gespielt, so wissen sie bald darauf nichts mehr davon. Doch in ihren Träumen sehen sie die Blöcke fallen, wie Robert Stickgold von der Harvard Medical School in Boston festgestellt hat. Und wer einfache Aufgaben übt - etwa mit den Fingern einen bestimmten Rhythmus zu klopfen -, dem gelingt dies besser, wenn er zwischendurch geschlafen hat.

Doch selbst komplexere Probleme lassen sich offenbar manchmal besser lösen, wenn man "darüber geschlafen hat". So berichtet zum Beispiel Clara Hill von der University of Maryland in College Park, dass Paare, die sich in ihren Träumen häufig mit der Partnerschaft beschäftigen, auch eher in der Lage sind, Beziehungskonflikte zu lösen.

Auch Stickgold schließt nicht aus, dass wir während des Schlafens zuvor gesammeltes Wissen verarbeiten und sogar neue Verbindungen zwischen unseren Erfahrungen herstellen. Aber dass wir träumend tatsächlich bewusst abrufbare Erinnerungen vertiefen, ist alles andere als sicher. Etliche Studien sprächen dagegen, meint etwa Jerome Siegal von der University of California in Los Angeles.

Wer recht hat, oder ob und wie sich die verschiedenen Ansätze zu einem Gesamtkonzept des Traumes zusammenfügen lassen, ist noch nicht klar.

Warum so bizarr?

Klar ist aber, wieso unsere Träume so bizarr sein können und uns die verrückten Bilder, die uns unser schlafendes Gehirn vorgaukelt, trotzdem so real vorkommen.

Wir träumen gerade in sogenannten REM-Phasen des Schlafes, in die wir vor allem gegen Ende der Nacht treten. Wie Hirnforscher inzwischen festgestellt haben, ist in dieser Phase unser limbisches System, das der Verarbeitung von Emotionen dient, stärker aktiv als im Wachzustand. Und besonders viel los ist dort offenbar in jenen Bereichen, die mit der Angst zu tun haben.

Zugleich schlummert jedoch das Stirnhirn (Präfrontaler Kortex), wo Rationalität und Vernunft sitzen und uns sagen könnten: Das kann nicht sein.

Wenig zu tun hat natürlich auch das primäre Sehzentrum, welches Signale aus der Umwelt verarbeitet. Dafür ist der sekundäre visuelle Kortex aktiv, der im Wachzustand hilft, diese Informationen zu interpretieren. Da aber die Augen geschlossen sind, versucht dieses Hirnzentrum, Informationen aus dem Gehirn selbst zu einem halbwegs stimmigen Bild der Welt zusammenzusetzen - dabei entstehen offenbar die seltsamen Traumbilder.

Auch in jenen Zentren, die unsere Sinneswahrnehmungen und Bewegungen verarbeiten, ist einiges los, weshalb wir im Traum häufig das Gefühl haben, selbst aktiv zu sein.

Zum Glück schläft allerdings jener Teil unseres Hirnstammes, der im Wachzustand dafür sorgt, dass wir unsere Handlungspläne tatsächlich umsetzen. Wäre dies anders, würden wir im Schlafzimmer vielleicht gegen Monster kämpfen und dabei uns und andere verletzen.

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