Süddeutsche Zeitung

Frage der Woche:Denken wir bei Gefahr schneller?

Beängstigende Situationen erleben wir häufig wie in Zeitlupe. Haben wir dann auch mehr Zeit, um zu reagieren?

Markus C . Schulte von Drach

Gerade noch fahren wir mit 120 Stundenkilometern über die Autobahn, da stechen uns plötzlich die roten Bremslichter der Autos vor uns ins Auge. Rasend schnell nähern wir uns dem Ende des Staus. Wir steigen auf das Bremspedal, überlegen, ob wir besser auf den Standstreifen ausweichen sollten und fragen uns, ob das jetzt vielleicht das Ende ist.

Wer eine solche Situation oder einen ähnlich gefährlichen Vorfall erlebt hat, kennt sicher das Zeitlupengefühl, das sich dabei einstellt.

Aber verlängert sich die Zeitspanne, in der wir reagieren können, für uns tatsächlich, wenn wir in Gefahr sind? Natürlich entspricht der Sekundenbruchteil, in dem die Informationen auf uns einstürmen, der Zeit, die auch für den Rest der Welt vergeht. Doch es könnte ja sein, dass wir die einzelnen Ereignisse schneller verarbeiten und so mehr Zeit haben, um damit umzugehen - ähnlich wie die Helden des Films "Matrix", die sogar heranfliegenden Kugeln ausweichen können.

Wissenschaftler des Baylor College of Medicine in Houston, USA, haben kürzlich versucht, dieser Frage in einem Experiment nachzugehen, das im wahrsten Sinne des Wortes aufregend war.

Das Team um David Eagleman lud seine Testpersonen in einen Freizeitpark ein, wo sie sich rückwärts von einer 46 Meter hohen Plattform, dem "Suspended Catch Air Device", in ein Netz fallen ließen, das sich 15 Meter über der Erde befand. Eagleman selbst bezeichnete den Sturz über 31 Meter als "das Furchterregendste, das ich je getan habe".

Die Versuchsteilnehmer dieser "Fallstudie" brauchten für die Strecke etwa 2,5 Sekunden. Bevor sie sich in das Netz stürzen durften, sollten sie sich den Fall jedoch erst bei jemand anderem ansehen und sich anschließend vorstellen, wie es wäre, selbst hinabzufliegen. Für diesen imaginären Sturz - den sie mit einer Stoppuhr festhielten - brauchten sie etwas länger als zwei Sekunden.

Doch die Dauer ihres realen freien Falles danach kam ihnen im Durchschnitt um 36 Prozent länger vor. Nun wollten Eagleman und sein Team wissen, ob die Probanden diesen Zustand von "Slow Motion" auch für ihre Wahrnehmung nutzen konnten.

Sie rüsteten die jungen Leute mit einer kleinen "Wahrnehmungs-Uhr" aus, auf deren zwei Monitoren digitale Zahlen abwechselnd rot vor weißem Hintergrund oder als Negativ davon aufleuchteten. Das menschliche Gehirn ist erst dazu in der Lage, etwas zu erkennen, wenn es lange genug erscheint. Ändern sich die Bilder mit zu hoher Frequenz, überlagern sich deshalb Zahl und Negativ für unser Auge und wir können nichts erkennen.

Die US-Forscher ermittelten, ab welcher Frequenz ihre Versuchspersonen die Zahlen gerade noch erkennen konnten. Bei Tage mussten die Bilder jeweils für 47 Millisekunden zu sehen sein, nachts waren es 33 Millisekunden. Dann erhöhten sie die Frequenz gerade so weit, dass die Probanden die Ziffern unter normalen Umständen nicht mehr sehen konnten, sie aber beim Sprung hätten erkennen müssen - wenn sich die Zeit für ihr Wahrnehmung tatsächlich verlangsamt hätte.

Dem war jedoch nicht so.

"Zur Zeit", so stellten die Wissenschaftler fest, "gibt es keine Hinweise darauf, dass die subjektive Zeit während angsterregender Ereignisse in Zeitlupe abläuft". Es könnte dagegen sein, dass in diesen aufregenden Momenten mehr Informationen, etwa mehr Details, ins Gedächtnis aufgenommen werden als sonst, weil die Amygdala besonders aktiv ist. Diese Hirnregion spielt für Emotionen und Erinnerungen eine wichtige Rolle.

Erinnern wir uns an das gefährliche Ereignis, interpretieren wir die verhältnismäßig vielen gespeicherten Eindrücke als Hinweis auf eine längere Zeitspanne, über die sie sich verteilt haben.

Wir sollten uns also nicht darauf verlassen, dass wir in Gefahrensituationen besser reagieren, weil wir schneller wahrnehmen oder denken können. Wir erinnern uns nur hinterher an mehr und deshalb kommt uns die vergangene Zeit länger vor.

Die Beobachtungen der US-Wissenschaftler passen auch zu anderen Forschungsergebnissen und zu einer Wahrnehmung, die für die meisten von uns alltäglich ist. Wird uns zum Beispiel ein Gegenstand für eine bestimmte Dauer auf einem Monitor immer wieder gezeigt und dann plötzlich durch etwas anderes ersetzt, so scheint das neue Objekt für uns deutlich länger zu sehen zu sein - auch wenn es nach der gleichen Zeit wieder verschwindet wie seine Vorgänger.

Zum anderen haben Erwachsene meist das Gefühl, die Zeit vergehe mit zunehmendem Alter immer schneller. Das liegt offenbar daran, dass kaum noch etwas Ungewöhnliches passiert, an das zu Erinnern sich lohnt. Kinder dagegen erleben ständig etwas Neues. Deshalb kommt ihnen ein Jahr viel länger vor als einem Erwachsenen.

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