Fossilien:Kambrisches Krakenrätsel

Jahrzehntelang rätselten Wissenschaftler, um was für ein Tier es sich bei dem Fossil "Nectocaris" eigentlich handelt. Kanadische Forscher sind seinem Geheimnis jetzt auf die Spur gekommen.

Markus C. Schulte von Drach

Die Tiere, deren Fossilien in den 30er Jahren im Burgess-Schiefer in den kanadischen Rocky Mountains entdeckt worden waren, erschienen dem Paläontologen Stephen Jay Gould extrem außergewöhlich. So außergewönlich, dass er vermutete, es habe zu ihrer Zeit - dem Kambrium vor 500 Millionen Jahren - erheblich mehr tierische Baupläne gegeben als heute.

Nectocaris pteryx

So könnte "Nectocaris pteryx" ausgesehen haben.

(Foto: Marianne Collins)

Gould stellte die Funde des Burgess Shale in seinem Buch Zufall Mensch der breiten Öffentlichkeit vor. Und eines der erstaunlichsten Tiere, die die sogenannte kambrische Explosion - eine deutliche Zunahme verschiedener Tierarten - hervorgebracht hatte, war Nectocaris pteryx.

Viele der Fossilien, die Gould so fremdartig vorkamen, wurden inzwischen doch in die heutige Systematik des Tierreiches eingegliedert. Nectocaris, der "Schwimmende Krebs mit Flügeln" aber verwirrte die Wissenschaftler bis jetzt mit Eigenschaften, die einerseits auf eine Art Krebs hinwiesen, andererseits besaß das Tier flossenähnliche Strukturen.

Schon Goulds Kollege Simon Conway Morris, der das Tier 1976 zuerst beschrieben hatte, hatte keine Ahnung gehabt, wo er es einordnen sollte. Schließlich wurde sogar vermutet, es könnte eine Chorda besessen haben, ein inneres Achsenskelett, das bei Wirbeltieren durch die Wirbelsäule ersetzt wird.

Doch in den vergangenen Jahrzehnten wurden in den Ablagerungen der Burgess-Shale-Formation 91 weitere Fossilien von Nectocaris entdeckt. Mit Hilfe dieser Funde haben Martin Smith und Jean-Bernard Caron von der University of Toronto, Kanada, festgestellt, dass es sich bei dem Tier um einen Kopffüssler handelte, einen Verwandten der heutigen Kraken und Tintenfische.

Schnelle Evolution

Während diese jedoch mehrere Arme besitzen, trug das fünf bis sieben Zentimeter lange, flunderartige Tier offenbar nur zwei lange Tentakel am Kopf, berichten die Forscher im Fachmagazin Nature. Es orientierte sich mit Hilfe von zwei kurzen Stilaugen. Ein elastischer Schlauch, der in die Körperhöhle des Tieres führte, deutet darauf hin, dass es schon vor einer halben Milliarde Jahren das Rückstoß-Prinzip benutzte, mit dem sich auch heutige Kraken noch bewegen. Im Gegensatz zu anderen Kopffüßern besaß Nectocaris allerdings keine Schale.

Nectocaris pteryx

Ein Fossil von "Nectocaris pteryx" aus dem Burgess-Schiefer. Zu sehen ist die Unterseite des Tieres.

(Foto: Jean-Bernard Caron)

Die Forscher hatten lange angenommen, die Kopffüßer hätten sich im späten Kambrium entwickelt, als eine langsame Veränderung an den Schalen schneckenähnlicher Tiere dazu führte, dass sie vom Meeresboden abheben konnten. "Nectocaris zeigt uns, dass die ersten Kopffüßer bereits schwimmen konnten ohne Hilfe der gasgefüllten Schalen" erklärt Smith. "Die entwickelten sich erst viel später, vielleicht aufgrund der Konkurrenz und der Gefahr durch Räuber im späten Kambrium."

Nectocaris lebte zehn bis 15 Millionen Jahre früher als die ältesten bislang bekannten Kopffüßer mit Schalen.

Innerhalb eines "geologischen Wimpernschlags entwickelte sich aus einer sehr einfachen vorkambrischen Form etwas so komplexes wie ein Kopffüßer ", erklärt der Paoäontologe. "Das zeigt, wie schnell die Evolution Komplexität produzieren kann."

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