Forschungspolitik:Warum die Ergebnisse der Migrationsforschung fast niemand zur Kenntnis nimmt

Flüchtlinge im Mittelmeer

Die Migration ist eines der ganz wichtigen Themen. Doch die Forscher sind zu leise.

(Foto: dpa)

Migrationsforscher produzieren gerade am laufenden Band wichtige Erkenntnisse - um sich dann mitsamt ihren Arbeiten wegzuducken.

Kommentar von Christian Gschwendtner

Um die nötige Aufmerksamkeit muss sich jemand wie Thomas Piketty normalerweise nicht sorgen. Mit seinem Buch "Das Kapital im 21. Jahrhundert" ist ihm ein globaler Bestseller gelungen. Seitdem kann der Starökonom im Grunde sagen, was er will. Die Leute hören ihm fast automatisch zu.

Aber es gibt Probleme, bei denen selbst Piketty machtlos ist. Zum Beispiel wenn es um den Wunsch der Wissenschaft geht, sich im Flüchtlingsstreit endlich wieder Gehör zu verschaffen. Gerade erst hat Piketty mit 500 international bekannten Kollegen einen Aufruf gestartet. Die Forscher wollen, dass wissenschaftliche Fakten bei der Antwort auf die Krise wieder eine Rolle spielen. Ein radikaler Kurswechsel soll her und ein Ende von kurzfristigen Scheinlösungen. Klingt gut. Nur haben die Allerwenigsten den Aufruf überhaupt wahrgenommen.

Das ist bedauerlich, weil die Migrationsforschung gerade am laufenden Band neue Erkenntnisse produziert, die so manchem Meinungskämpfer sicher guttäten. Zum Beispiel, dass ein Großteil der Bevölkerung in Europa und in den USA noch immer nicht die leiseste Ahnung hat, mit wie vielen Flüchtlingen er oder sie es im Alltag wirklich zu tun hat. Die tatsächlichen Flüchtlingszahlen werden von den meisten Menschen nach wie vor massiv überschätzt, wie eine internationale Vergleichsstudie entdeckt hat. Nur hat das wieder fast niemand zur Kenntnis genommen.

Forscher sind ungern auf Facebook und in Talkshows. Das rächt sich jetzt

Ehrlicherweise muss man sagen, dass die Wissenschaftler an dieser Situation selbst nicht ganz unschuldig sind. Aus Angst irgendwie als parteiisch wahrgenommen zu werden, ducken sich viele Forscher viel zu oft weg. Sie sagen lieber gar nichts, um den Populisten bloß keine Angriffsfläche zu bieten. Das ist zwar verständlich. Vor allem, wenn man sich die Situation in Ungarn anschaut, wo die Orbán-Regierung Migrationsforscher öffentlich gezielt bloßstellt und Forschungsgelder streicht. Gleichzeitig trägt die Wissenschaft durch ihre zögerliche Haltung aber zur eigenen Marginalisierung bei. Wer sich nicht einmischt, spielt irgendwann auch keine Rolle mehr. Und dass ausgerechnet beim so wichtigen Thema Migration, das Politiker längst als das Thema des kommenden Jahrhunderts ausgemacht haben.

Ändern wird sich das nur, wenn die Forscher endlich auch dort hingehen, wo die eigentliche Diskussion stattfindet und wovor sie sich gern drücken: auf Facebook, in den Talkshows und auf den Wahlkampfpodien. Das mag anstrengend sein und sich nicht mit dem Selbstbild des Wissenschaftlers vereinbaren lassen. Effektiver als gut gemeinte Forderungen auf dem Papier aufzustellen, ist es jedoch allemal. Das müssten die Forscher eigentlich längst von den Politikern gelernt haben.

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