Forschung:Tödliche Seegrenze: Tragische Fluchten aus der DDR erforscht

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Die undatierte Aufnahme aus dem Sommer 1961 zeigt Lilli Gruner auf einer Decke sitzend am Strand (Aufnahmeort unbekannt). Foto: ---/Privatbesitz Anita Krätzner-Ebert/dpa (Foto: dpa)

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Greifswald (dpa) - Anita Krätzner-Ebert arbeitet 2008 an ihrer Examensarbeit in Geschichte, als sie auf einen Namen stößt, der sie so schnell nicht mehr loslassen sollte: Lilli Gruner war in Akten 1961 noch als Studentin an der Universität Rostock geführt.

1962 sei der Name dann in allen Studierendenunterlagen durchgestrichen gewesen. "Daneben steht: DDR verlassen", erinnert sich Krätzner-Ebert.

Was sich tatsächlich hinter diesem Eintrag verbirgt, lernte die inzwischen promovierte Historikerin unter anderem aus Stasi-Akten. Von der mecklenburgischen Küste aus wollte Lilli Ende August 1962 zusammen mit ihrem Bruder Peter in einem Schlauchboot aus der DDR fliehen. Anfang September desselben Jahres wurde ihre Leiche treibend vor Pelzerhaken in Schleswig-Holstein entdeckt, ihr Bruder wurde nie gefunden. Krätzner-Ebert hat ein Buch über die Geschwister geschrieben. "Es waren einfach zwei sehr verzweifelte junge Leute."

Mehr als 100 Fluchten über die Ostee mit Todesfolge

Dass es sich um kein Einzelschicksal handelt, verdeutlicht die Arbeit einer Forschergruppe an der Universität Greifswald. 112 Fluchten über die Ostsee mit Todesfolge hätte ihr Team derzeit bestätigt, sagt Merete Peetz. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Todesfälle bei Fluchtversuchen über die Ostsee. Hinzu kämen 70 bis 100 Fälle, bei denen stark davon auszugehen sei, dass es sich um tödliche Fluchtversuche handelt.

Das fünfköpfige Team unter Leitung von Hubertus Buchstein hat es sich zum Ziel gesetzt, ein möglichst umfassendes Bild tödlicher DDR-Fluchten über die Ostsee zu erhalten. Dazu gehen sie nicht nur Berichten schon bekannter Fluchten nach, sondern durchforsten ebenso Archive nach Wasserleichen, um auch bisher unbekannte Fluchtversuche aufzudecken.

"Die Landfluchten sind ziemlich gut erforscht", sagt Henning Hochstein, ebenfalls wissenschaftlicher Mitarbeiter bei dem Projekt. Was die Fluchten über die Ostsee angeht, sei es der erste Versuch einer wissenschaftlichen Aufarbeitung. Vorher habe es nur Privatinitiativen gegeben. Deren Arbeit nutze die Forschergruppe zwar, aber die Fälle würden noch einmal wissenschaftlich überprüft.

Manchmal muss Hochstein bei der Arbeit seinen Stift weglegen und durchatmen, wie er erzählt. Mit dem Versuch, einen Fall zu rekonstruieren, komme automatische auch Anteilnahme. Etwa in Fällen, in denen Familienmitglieder ihren Angehörigen beim Ertrinken zusehen mussten. "Es ist nicht leicht", sagt auch Peetz.

Den Fall Gruner haben die Forscher ebenfalls in ihre Aufstellung aufgenommen. Die Gruners seien eigentlich vorbildliche DDR-Bürger ohne Fluchtabsichten gewesen. In ihrem Freundeskreis hatte es aber Fluchten gegeben, weshalb die Stasi sie verhörte und zur Zusammenarbeit bringen wollte.

Am Ende sahen Schwester und Bruder nur die Flucht als Ausweg. Ähnlich sei es vielen der Fluchtopfer ergangen, erläutert Peetz. Viele seien erst durch eine versuchte Anwerbung durch die Stasi zur Flucht gedrängt worden. Ihn habe beeindruckt, dass sich die Menschen lieber den Naturgewalten ausgesetzt hätten, als weiter im DDR-System zu leben, sagt Hochstein.

Die Fluchtrouten und Hilfsmittel waren den Forschern zufolge sehr unterschiedlich. In der Lübecker Bucht hätten Menschen etwa schwimmend versucht, Westdeutschland zu erreichen - und es auch geschafft. Östlich von Rügen hätten eher versierte Bootsführer versucht, nach Bornholm zu gelangen. Die DDR habe ihre Seegrenzen mit der 6. Grenzbrigade Küste gesichert und die habe mit Booten oder am Strand patrouilliert sowie die Küste von Türmen aus beobacht. Hinzu kamen die verdeckte Überwachung durch die Stasi oder private Helfer - etwa Anwohner, die an der Küste Ausschau hielten.

Das seit Sommer 2019 laufende Forschungsprojekt wird vom Bund finanziert - bis zum Herbst 2022. Peetz und Hochstein, gehen davon aus, dass sie eine Verlängerung benötigen, auch weil die Archivarbeit durch die Corona-Pandemie zeitweise nicht möglich gewesen sei. Ziel der Arbeit sei es unter anderem, die nachverfolgten Biografien in Internet öffentlich zugänglich zu machen.

Es sei für die Gesellschaft nicht vertretbar, wenn die Toten namenlos und gesichtslos blieben, sagt Hochstein. Das einzige, was dann bliebe seien Traumata in Familien. Die Arbeit mit Zeitzeugen sei extrem wichtig, berichten die beiden Forscher. Denn diese können, wie Peetz schildert, auch etwas über den Menschen hinter dem Namen verraten.

© dpa-infocom, dpa:210813-99-825623/2

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