Süddeutsche Zeitung

Forschung mit Gefühl:Der falsche Eindruck vom emotionalen Ausdruck

Lesezeit: 6 min

Wer keine Gefühle zeigt, gilt schnell als kalt oder unecht, emotionales Verhalten dagegen soll ein Zeichen persönlicher Authentizität sein. Doch hinter diesen Annahmen steckt offenbar ein großes Missverständnis.

Alexander Grau

Gefühle auszuleben gilt als wichtig. Von der Kummerkasten-Tante bis zum promovierten Psychotherapeuten sind sich darin alle einig. Und da Emotionalität mit Authentizität gleichgesetzt wird, gelten introvertierte oder beherrschte Menschen als verklemmt, kalt und irgendwie unecht.

Das war natürlich nicht immer so. Zumindest für Männer galt das Zeigen von Gefühlen bis vor kurzem als Zeichen von Schwäche. Aber auch das hat sich geändert.

Doch eigentlich steckt hinter dieser Mode ein großes Missverständnis. Die Annahme, dass emotionales Verhalten ein Zeichen persönlicher Authentizität sei, beruht auf der Vorstellung, dass Gefühle und Gefühlsäußerungen untrennbar miteinander verbunden sind.

Wer seinen Gefühlsausdruck unterdrückt, so die landläufige Meinung, deformiere daher seine Gefühle. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass nur äußerlich erkennbare emotionale Reaktionen ein Zeichen dafür sind, dass im Inneren echte Gefühle empfunden werden, der Mensch also authentisch reagiert. Soweit die gängige Vorstellung.

Inzwischen aber beginnen Forscher, diese Verknüpfung als Klischee zu entlarven. Gefühl und Gefühlsausdruck sind eben nicht untrennbar miteinander verbunden, lautet die These, die Manfred Holodynski von der Universität Münster zusammen mit Wolfgang Friedlmeier von der Grand Valley State University im US-Staat Michigan verfolgt.

Eine reife und erwachsene Persönlichkeit zeichne sich gerade dadurch aus, dass sie ihre Gefühlsäußerungen kontrollieren könne, ohne dabei ihre Gefühle zu unterdrücken.

Nur bei Kindern eine Einheit

Nur bei Kindern bilden Gefühl und Ausdruck eine Einheit, sagen die Forscher. Hunger haben und Schreien ist für das Kind ein und dasselbe. Erst bei älteren Kindern beginnen sich Gefühl und Gefühlsausdruck zu entkoppeln.

Und wenn Erwachsene schließlich in der Lage seien, das innere Erleben vom äußeren Verhalten zu trennen, dann habe das nichts mit Falschheit oder Selbstverleugnung zu tun. Erst die Entkopplung ermögliche ein komplexes Sozialleben. Etwa wenn man seinem Chef nicht offen die Meinung sagt, sondern versucht, sein Ziel auf raffiniertere Weise zu erreichen.

Die nun von Holodynski kritisierte Einsicht, dass der Gefühlsausdruck der Schlüssel zum Verständnis der Gefühle sei, verdankt die moderne Forschung dem amerikanischen Psychologen Paul Ekman. Der Mimikforscher hatte über Jahrzehnte zahllose Gesichtsausdrücke gesammelt, katalogisiert und interpretiert.

Seine These: Der Mensch verfügt über ein Repertoire von mimischen Ausdrücken, die Menschen kulturübergreifend kennen und zeigen. Sie drücken angeborene Basisemotionen wie Angst, Wut, Trauer, Freude oder Ekel aus.

Inzwischen wird Ekmans Ansatz in der Mimik-Forschung aber in Zweifel gezogen. So weist Klaus Scherer, Emotionspsychologe an der Universität Genf, darauf hin, dass die angeblich so charakteristischen Mimiken der Basisemotionen im Alltag kaum zu beobachten sind.

Emotionen würden, so Scherer, in vielfältiger Weise ausgedrückt: "Die Vorstellung, dass unser emotionales Leben auf klar unterscheidbaren und unzerlegbaren Basisemotionen beruht, wird dessen Vielfalt und Variabilität nicht gerecht."

Auch Neugeborene verfügen schon über ein gewisses Repertoire, um ihre Bedürfnisse auszudrücken. Ekmans schematische Gesichter zeigen sie dabei allerdings selten. Anders als Ekman nehmen Forscher wie Scherer, Holodynski und Friedlmeier daher an, dass Emotionen nicht angeboren sind - Säuglinge müssen sie erlernen.

"Der Kern jeder Emotion ist bedürfnisgeleitete Kommunikation", erläutert Holodynski. Das Baby schreit, und Mama nimmt es in den Arm. Das Kleinkind lernt so, dass es mit seinem Gefühlsausdruck seine Umwelt steuern kann.

Die Gefühle, die es dabei hat, sind Holodynski zufolge vermutlich diffuse Körperempfindungen. Er nennt sie "Vorläufer-Emotionen". Erst im Austausch mit seinen Bezugspersonen lernt das Baby, seine Bedürfnisse immer differenzierter auszudrücken und wahrzunehmen, komplexe Gefühle zu entwickeln und diese verständlich zu machen.

Zwischen dem Baby und seiner Bezugsperson spielen sich dann mimische "Dialoge" ab. Durch sie lernt das Kind Mimik zu verstehen, selber mit Mimik zu kommunizieren und dabei die Gefühle zu entwickeln, die das jeweilige Mienenspiel ausdrückt.

Wissenschaftler sprechen von einer "Affektabstimmung": "Sie dient dazu, dass Kinder prägnante Ausdruckszeichen und deren Verknüpfung mit einem Gefühl erlernen", erklärt Holodynski. Emotionen sind also nicht angeboren. "Emotionen", fasst Holodynski etwas provozierend zusammen, "sind das Produkt von Erfahrungen." Der Ausdruck ist zunächst wichtiger als die Emotion selbst.

Ins Gesicht geschrieben

Das scheint der These des Münsteraner Psychologen eigentlich zu widersprechen. Aber wenn das Kind älter wird, verändert sich die Verknüpfung von Gefühl und Ausdruck.

Sobald das Kind nämlich lernt, sich seine Bedürfnisse selber zu erfüllen, verlieren Ausdruckszeichen ihren Appellcharakter. Sie bekommen mehr und mehr kommunikative Funktion. Dabei kann man etwas Spannendes beobachten: Mit fünf oder sechs Jahren zeigen Kinder noch deutlich ihre Empfindungen, auch wenn niemand in der Nähe ist, der auf den Ausdruck von Gefühl reagieren könnte. Das ändert sich aber im Grundschulalter.

Mit einfachen Experimenten konnte Holodynski dokumentieren, wie Kinder im Laufe ihrer Entwicklung beginnen, den sichtbaren Gefühlsausdruck von ihren inneren Gefühlen zu trennen: Sie untersuchten die Reaktion von Kindern, wenn sich eine Schachtel, in der sie Süßigkeiten vermuteten, als leer erwies.

Vorschulkinder zeigten ihre Enttäuschung deutlich, gleichgültig ob noch eine andere Person anwesend war oder nicht. "Schulkinder hingegen", so Holodynski, "zeigten ihre Enttäuschung zwar in der Gegenwart Erwachsener, nicht aber wenn sie alleine waren. Und wenn doch, dann deutlich gedämpft."

Im Gegensatz zu kleineren Kindern hatten ältere also gelernt, ihren Gefühlsausdruck zu kontrollieren. Ihre Enttäuschung über die fehlenden Süßigkeiten war genau so groß. Sie drückten das Gefühl aber nur dann aus, wenn jemand anwesend war, der die Enttäuschung auch wahrnehmen konnte. Warum reagierten die älteren Kinder jedoch so anders, wenn sie alleine waren?

Die Antwort auf diese Frage gibt Holodynskis "Internalisierungsmodell der Emotionsentwicklung". Kern dieses Modells ist die These, dass Kinder im Schulalter beginnen, ihre Gefühle zu verinnerlichen. Das heißt: Die Regulation der Gefühle ist nicht mehr äußerlich erkennbar, sondern erfolgt auf einer inneren, mentalen Ebene. Gefühlsäußerungen wie Enttäuschung, die bei kleineren Kindern deutlich am Gesicht ablesbar ist, werden bei älteren Kindern nur noch innerlich simuliert.

Holodynski weist zur Illustration auf die Sprachentwicklung hin: "Kleine Kinder nutzen das laute Sprechen dazu, sich selbst bei schwierigen Handlungen anzuleiten. Demgegenüber können Grundschulkinder leise oder sogar ganz innerlich mit sich sprechen."

Analog verläuft auch die Entwicklung des emotionalen Ausdrucks. Anfangs ist er sichtbar, später nur subjektiv gefühlt. Diese Verinnerlichung darf allerdings nicht, etwa in Freudscher Manier, als Verdrängung verstanden werden. Die Kontrolle des Ausdrucksverhaltens verlagert sich lediglich von außen nach innen.

Wie gut das funktioniert, illustriert ein Experiment: Holodynski und seine Kollegen ließen Versuchspersonen an etwas Erfreuliches aus ihrem Leben denken. Die Versuchspersonen berichteten, dass sie die Freude auch in ihrer Mimik empfunden hätten.

Dann wurden sie gebeten, vor einen Spiegel zu treten, die Intensität ihres empfundenen Lächelns mit geschlossenen Augen nachzustellen und sich dann im Spiegel zu betrachten. Holodynski: "Sie waren verblüfft, dass sie ihr Lächeln deutlich empfunden haben, im Spiegel aber nichts zu sehen war."

Welchen Sinn aber hat diese Trennung von subjektivem Empfinden und sichtbarem Ausdruck? "Sie erweitert den Handlungsspielraum einer Person", so der Psychologe, "sie kann eine Emotion subjektiv empfinden und damit den Grad, wie sich in der aktuellen Situation ihre Bedürfnisse befriedigen lassen. Sie kann dann aber innehalten und sich effizientere Mittel als den direkten Gefühlsausdruck überlegen, ihr Ziel durchzusetzen."

Das klingt banal, ist aber ein strikter Bruch mit den Traditionen abendländischen Denkens. Es unterscheidet seit Jahrtausenden zwischen den Emotionen, ihrem Ausdruck und einer Instanz, die beide kontrolliert. Sie kennt also drei Elemente. Gefühl, Gefühlsausdruck und Gefühlskontrolle seien klar voreinander getrennt.

Das Internalisierungsmodell von Holodynski und Friedlmeier unterläuft diese Trennung. Es macht eindringlich klar, dass Gefühl, Gefühlsausdruck und Gefühlskontrolle nur drei Aspekte desselben Prozesses sind. Weder gibt es eine emotionsfreie Emotionskontrolle, noch bedeutet die Abwesenheit von Gefühlsäußerungen, dass die Emotionen nicht vorhanden sind.

Der Gefühlsausdruck ist ein Mittel der Gefühlsregulation, das bei Heranwachsenden zunehmend verinnerlicht wird. Ein Erwachsener ist daher in der Lage seine Gefühle zu kontrollieren, ohne sie nach außen zu zeigen. Die Vorteile liegen auf der Hand: Er ist nicht mehr auf das Feedback anderer Personen angewiesen. Und er kann sein Ausdrucksverhalten bewusst steuern.

Das Gefühl, recht zu haben

Theatralische Tränen oder hysterische Freudentänze sind somit kein Zeichen für Authentizität. Und für emotionale Kompetenz schon gar nicht.

Umgekehrt gilt allerdings auch: Zurückhaltung ist kein Hinweis auf eine eigentlich vorhandene emotionale Tiefe, die von großer persönlicher Reife begleitet wird. Zurückhaltung kann auch einfach bedeuten, dass unter der Oberfläche kaum Emotionen empfunden werden .

Da Gefühle Teil der von Interessen geleiteten Kommunikation sind, sagt das Ausdrucksverhalten vor allem etwas über die Wünsche und Ziele einer Person. Besonders emotionales Verhalten ist dann vor allem ein Anzeichen dafür, dass eine Person ihre Interessen für berechtigt hält.

Das Gefühl, im Recht zu sein, ist aber ein Ergebnis der moralischen Sozialisation, in welche die Werte einer Gesellschaft einfließen. Insofern sagen Ereignisse oder Themen, auf die Menschen besonders emotional reagieren, weniger etwas über die Individuen, dafür mehr über die Gesellschaft, in der sie leben.

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Quelle:
SZ vom 26.03.2008/mcs
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