Forschen in der Freizeit:Freiwillige für den galaktischen Zoo

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Manche wissenschaftlichen Projekte erfordern so viel Computerleistung, dass Forscher per Internet auf die Unterstützung von Privatpersonen zurückgreifen. Zum Teil kommen von den Laien erstaunliche Beiträge.

Inga Ludwig

Tagsüber arbeitet Charlie als Elektroniker; nach Feierabend verwandelt er sich in CharlieFortsConscience, den Spieler. Sein Lieblingsspiel heißt Foldit, eine Art dreidimensionales Puzzle, in dem man eine bizarre Struktur aus bunten Spiralen und Schleifen, Zacken und Stacheln formen soll. Charlie spielt fast täglich, schon lange verteidigt er den zweiten Platz in der Bestenliste. "Es ist mein Laster", sagt er in einem Online-Video der Fachzeitschrift Nature, "trotzdem bin ich an etwas beteiligt, was wirklich Bedeutung für die Wissenschaft hat. Das macht einen stolz".

Manchmal setzen Wissenschaftler gezielt auf die Unterstützung von möglichst vielen Laien. Das Galaxy-Zoo-Team etwa bat seine freiwilligen Helfern festzustellen, ob bestimmte Galaxien kugel- oder spiralförmig sind oder rechts- oder linksdrehend sind. (Foto: AFP)

Charlie ist ein "Citizen Scientist", ein Bürgerwissenschaftler. So heißen Laien, die via Internet kostenlos für die Wissenschaft arbeiten. Ohne molekularbiologische Kenntnisse beschäftigt sich Charlie mit einer kniffligen Frage: Wie falten sich Proteine? Diese langkettigen, aus Aminosäuren zusammengesetzten Moleküle spielen in fast allen Fragen des Lebens eine entscheidende Rolle. Sie sind einer der Grundbausteine, aus denen jedes Lebewesen besteht, ohne sie wäre kein Organismus funktionsfähig.

Allerdings sind Proteine auch an vielen Krankheiten beteiligt. Proteine sind ein wichtiger Bestandteil von HI-Viren, sie dienen als Waffen gegen Krebszellen, zusammengeklumpt lagern sie sich im Gehirn von Alzheimer-Patienten ab. Die Funktion der Proteine ist wesentlich durch ihre dreidimensionale Struktur - ihre Faltung - bedingt ist. In der Natur falten sich die Moleküle so, dass der Erhalt der Struktur möglichst wenig Energie benötigt. Dieser Zustand ist im Labor schwer herauszubekommen. Biochemiker setzen daher traditionell auf Computer, um optimale Konfigurationen zu finden.

Diese Aufgabe erfordert eine so große Rechenleistung, dass David Baker von der University of Washington bereits vor einigen Jahren auf die Idee kam, via Internet die Rechenleistung von Privatanwendern zu nutzen. Im Jahr 2005 startete er das Projekt rosetta@home, bei dem eine Software auf den PCs der Teilnehmer rechnet. Die Software probiert Konfigurationen durch, die das Programm - ähnlich wie ein Bildschirmschoner - als bunte Bilder auf dem Monitor darstellt. Ergibt sich eine besonders gute Lösung, wird der PC-Besitzer mit einem Eintrag auf der Website des Projekts und womöglich sogar mit einer Nennung auf einer wissenschaftlichen Publikation belohnt.

"Einige Nutzer waren richtig ehrgeizig", berichtet Bakers Mitarbeiter Firas Khatib, "die Leute beobachteten ihre Bildschirmschoner und wollten am liebsten nachhelfen". Baker nahm schließlich Kontakt mit Spieldesignern auf. Seine Idee: Menschen investieren so viel Energie in beliebige Computerspiele - warum also nicht etwas von dieser Kreativität für wissenschaftliche Zwecke abzapfen?

Im Jahr 2008 ging dann Foldit an den Start, ein Computerspiel, bei dem es gilt, energiearme Konfigurationen von Proteinen zu finden. Die Regeln gibt die Biochemie vor, Punkte gewinnt, wer den Energieinhalt des Moleküls senkt.

Nach dem Vorbild klassischer Videospiele werden bei Foldit verschiedene Level durchgespielt und Punkte gesammelt. Eine im Internet veröffentlichte Bestenliste stachelt den Ehrgeiz zusätzlich an.

Die Fähigkeiten der Laienhelfer testete Bakers Gruppe zunächst, indem man diese eine bereits bekannte Proteinstruktur aufklären ließ. Das Ergebnis überraschte: In manchen Fällen schnitten die Menschen deutlich besser ab als die ursprüngliche Rosetta-Software - etwa dann, wenn Spielzüge zum Ziel führten, die mit vorübergehendem drastischen Punkteverlust einhergingen. "Die Menschen sind in der Lage, den langfristigen Nutzen zu sehen", sagt Khatib. So lassen sich von den besten Spielern Strategien lernen, mit denen man wiederum die Software verbessert.

Die Forscher vom Baker-Lab wollen sogar noch einen Schritt weiter gehen. Derzeit testen sie, ob die Bürgerwissenschaftler in der Lage sind, Proteine für bestimmte Anwendungen zu entwerfen - Antikörper etwa, deren Struktur exakt der Oberfläche eines Virus angepasst sein muss. "Der Traum wäre, dass ein Foldit-Spieler irgendwo in der Welt ein Heilmittel gegen eine schwere Krankheit erfindet", sagt Khatib.

Deutlich einfacher sind die Aufgaben, die das Galaxy-Zoo-Team seinen freiwilligen Helfern stellt. Hier ist jeder Mausklick wertvoll. In der Urversion aus dem Jahre 2007 klickten sich die Freiwilligen durch eine Reihe von Galaxie-Aufnahmen, die sie kategorisieren sollten: Kugel- oder spiralförmig? Rechts- oder linksdrehend? Was zu erkennen einer Software große Probleme bereitet, fällt Laien oft leicht. "Die meisten sind nach ein paar Bildern so gut wie Profi-Astronomen", sagt Kevin Schawinski, ein Gründer von Galaxy Zoo.

Als Doktorand an der Oxford University kämpfte er sich eine Woche lang durch fünfzigtausend Aufnahmen von Galaxien aus dem sogenannten Sloan Digital Sky Survey, um einen Datensatz von elliptischen Exemplaren zusammenzustellen. Abends im Pub beschwerte er sich bei seinem Kollegen Chris Lintott, dass es schön wäre, den ganzen, eine Million Galaxien umfassenden Datensatz zu durchforsten. Da erinnerte sich Lintott an das stardust@home-Projekt: Seit 2006 bittet die Nasa um Mithilfe bei der Musterung von Aufnahmen nach Staub aus dem All. "Wenn die Leute bereit sind, sich Staub anzuschauen, dann werden sie sich auch unsere wunderschönen Galaxien anschauen", dachte sich Lintott.

Schnell hatte die Gruppe um Schawinski und Lintott die Galaxien-Bilder ins Netz gestellt, in einem BBC-Auftritt warben sie für ihr Projekt. "Innerhalb von ein paar Tagen war jede Galaxie einmal klassifiziert", erzählt Schawinski, "und nach einem Jahr jede mehr als siebzig Mal". So konnten die Wissenschaftler von der Weisheit der Massen profitieren: Viele Laien können manchmal mehr als ein einzelner Experte.

Und auch die Computer konnten von den Freiwilligen lernen. Bilderkennungs-Programme müssen nämlich mit Datensätzen trainiert werden, deren Zuordnung bekannt ist. Gerade um auch die nicht eindeutigen, aber wissenschaftlich interessanten Fälle zu erfassen, müssen diese Datensätze möglichst groß und detailreich sein. Dank der Vorarbeit der Citizen Scientists können Computer Probleme lösen, die sie zuvor überforderten.

Hinzu kommt, dass Menschen offen sind für das Unerwartete. Manchmal werden sie daher mit Glücksfunden belohnt, wie zum Beispiel den grünen Erbsen: Grünliche Flecken, die einige Nutzer zufällig auf den Bildern entdeckt und im Forum des Galaxy Zoo zur Diskussion gestellt hatten, entpuppten sich als eine Klasse bislang unbekannter, besonders aktiver kleiner Galaxien.

Die Geschichte mit den grünen Erbsen demonstriert auch, welche methodische Qualität Laien liefern können. Sie sammelten Berichte von kosmischen Erbsenfunden, arbeiteten sich in die Auswertung von Spektren ein, erarbeiteten Kriterien, nach denen ein Objekt als Erbse gewertet werten sollte. Der Informatiker Christian Manteuffel, der eigentlich nur eine "interessante Freizeitbeschäftigung" für die Weihnachtsfeiertage gesucht hatte, opferte schließlich seine Sommerferien, um die Suche in der Datenbank zu systematisieren. Das selbst ernannte "Peas Corps" hatte schließlich 250 der geheimnisvollen Objekte ausfindig gemacht und beschrieben, als die Astrophysiker ernsthaft anfingen, sich mit diesen Funden auseinanderzusetzen. "Das war wunderbar", berichtet Lintott, "als wenn die halbe Veröffentlichung schon geschrieben wäre."

Er ist von den Bürgerwissenschaftlern derart überzeugt, dass er zusammen mit anderen eine Internet-Plattform gegründet hat, um Wissenschaftler und Bürger zusammen zu bringen - das Zooniverse. Jeder Forscher kann hier Projekte vorschlagen. Gerade diejenigen mit knappen Mitteln will die Gruppe unterstützen. Die nötige Infrastruktur, Software und Geld sind vorhanden, etwa sechs Programmierer arbeiten derzeit für das Projekt. Mehr als 350.000 Nutzer sind beim Zooniverse registriert und können jederzeit per Newsletter um Mithilfe gebeten werden.

So ist aus dem Galaxy Zoo inzwischen ein Großprojekt geworden, in dem die Grenze zwischen Wissenschaft und Unterhaltung verwischt. Fans können Tassen und T-Shirts erwerben; die ersten nicht-englischsprachigen Ausgaben des Galaxy Zoo sind online, seit kurzem auch eine in Deutsch. Hier können Bürger Planeten in fremden Sonnensystemen aufspüren oder Astronauten vor Strahlungsausbrüchen der Sonne warnen. Beim Projekt "Old Weather" kann sich jeder Internet-Nutzer einer virtuellen Schiffscrew anschließen und sich in Logbücher der Royal Navy aus dem ersten Weltkrieg vertiefen. Die enthalten wertvolle Wetterdaten, säuberlich verfasst in verschnörkelten, schwer entzifferbaren Handschriften - ein Fall für die Bürgerwissenschaftler.

© SZ vom 18.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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