Forensik:Verwesen im Dienste der Wissenschaft

Leiche Lochhausen

Ein Wald in der Nähe von München, in dem die Polizei Ende 2015 eine weibliche Leiche gefunden hat.

(Foto: Florian Peljak)

In "Bodyfarmen" in den USA legen Forensiker menschliche Leichen ab und erforschen, wie Mikroben, Pilze und Würmer die Körper zerfressen. So wollen sie den Todeszeitpunkt bei Mordfällen besser bestimmen können.

Von Kai Kupferschmidt

Zwischen den Schatten der Pinien liegt eine Leiche auf dem Waldboden. Ein dicker, nackter Mann, seine Augen glotzen in den Himmel. Eine junge Frau in einem weißen Schutzanzug beugt sich über sein Gesicht. Mit einem Baumwolltupfer fährt sie über seine rechte Wange. Einmal, zweimal, dreimal. Als würde sie den Toten streicheln. Jede ihrer Bewegungen wird von einer Gruppe von acht Forschern beobachtet. "Das war schwächer, als ich mir das vorgestellt hatte", sagt eine von ihnen, die Genetikerin Jessica Metcalf. Ihre roten Haare leuchten in der texanischen Sonne und betonen ihre Sommersprossen. "Könnten wir das mit ein bisschen mehr Druck machen. Sonst wird es schwierig, ausreichend DNA zu bekommen", sagt sie. "Aber auch nicht zu hart", sagt ein anderer Forscher. "Sonst verletzen wir die Haut."

Die Leiche liegt seit einer Woche im Freien. Zwei Tattoos und eine Operationsnarbe erinnern noch an das Leben, das der Mann einmal gelebt hat: Eine verflossene Liebe? Eine beängstigende Krankheit? Doch die Forscher interessieren sich nicht für Vergangenes. Sie interessieren sich für das Leben nach dem Tod, das nun Besitz ergreift von dem Körper: Die Bakterien, Einzeller und Pilze, die den Leib in den nächsten Wochen zersetzen werden. Die sich durch die Haut fressen, die einmal gefühlt hat, das Herz, das einmal geschlagen hat, die Nervenzellen, die einmal Erinnerungen gespeichert hatten. Für die Natur ist die Leiche eine Quelle von Nährstoffen, ein Berg von Stickstoff, Kalzium, Schwefel und anderen Elementen, den Mikroben Stück für Stück abtragen. Erde zu Erde.

Statt Blumen blüht hier der Tod

Metcalf will verstehen, wie genau dieser Prozess vor sich geht. Das könnte helfen, den Todeszeitpunkt in Mordfällen besser zu bestimmen. Darum ist sie an diesem Morgen mit ihren Kollegen zur Southeast Texas Applied Forensic Facility gekommen, einem Waldstück eine Stunde Fahrt von Houston, in dem Leichen im Dienste der Forensik verwesen. "Bodyfarm" nennen die Amerikaner das: Leichenfarm. Hinter einem hohen Zaun, wandert man zwischen Pinien durch einen Garten der Grausamkeiten. Statt Blumen blüht hier der Tod: Klaffende Wunden leuchten rot und orange. Verwesende Haut schimmert grünlich gelb. Verkohlte Knochen liegen neben weißen Schädeln. In einer Plastikwanne liegt ein alter Mann. Seine grauen Haare treiben im Wasser.

"Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal hier lande", sagt Metcalf. Als Schülerin habe sie erwogen, Medizin zu studieren. "Aber ich konnte nicht mal einen Regenwurm oder Frosch sezieren." Stattdessen studierte sie Genetik. In ihrer Doktorarbeit erforschte sie das Erbgut ausgestorbener Tiere in Patagonien. Dafür untersuchte sie auch Koprolithen, versteinerten Tierkot. Später begann sie sich für das menschliche Mikrobiom zu interessieren, die Gemeinschaft aus Viren, Bakterien und Einzellern, die im Darm und auf der Haut lebt. Eine der großen Fragen des Feldes ist, wie sich das Mikrobiom geändert hat im Laufe der Evolution des Menschen. Könnte das Darm-Mikrobiom der Urmenschen in Koprolithen erhalten sein? Möglicherweise. Aber wie sollte man die Darmbakterien unserer Vorfahren unterscheiden von den Mikroben, die alle organische Materie befallen und zerlegen?

So begann Metcalf die Verwesung zu erforschen. In ihrem Labor ließ sie 40 tote Mäuse verrotten, alle paar Tage untersuchte sie fünf Kadaver, nahm Proben und isolierte das Erbgut. So erhielt sie einen Schnappschuss der Mikroben, die in und auf den Kadavern lebten. Metcalf fand ein klares Muster: Mäuse, die sie an unterschiedlichen Tagen untersuchte, waren von unterschiedlichen Mikrobengemeinschaften besiedelt. Aber die Mäuse, die sie am selben Tag untersuchte, hatten das gleiche Muster.

Das könnte eine enorme Bedeutung haben. Die immer gleiche Abfolge der mikroskopischen Aasfresser scheint eine Art Mikrobenuhr zu sein, die nach dem Tod zu ticken beginnt. Bis heute ist es schwierig, anhand einer Leiche zu bestimmen, wann die Person gestorben ist. Dabei ist der Todeszeitpunkt für Morduntersuchungen eine besonders wichtige Information. Darum sind Metcalf und ihre Kollegen nun zur Arbeit an menschlichen Leichen übergegangen. Eine erste Studie an vier Toten scheint das bei den Mäusen gewonnene Ergebnis zu bestätigen. "Wir können die Todeszeit in den ersten 25 Tagen mit einer Genauigkeit von etwa zwei bis vier Tagen bestimmen", sagt Metcalf. Nun untersuchen sie, wie sich das Wetter und unterschiedliche Orte auf die Verwesung auswirken.

Sie half, menschliche Überreste in Masengräbern zu identifizieren

36 Leichen wollen sie in den nächsten zwölf Monaten auslegen, je drei Leichen pro Jahreszeit an drei Standorten in den USA. Die Forscher sind in Texas zusammengekommen, um das Vorgehen abzustimmen. Wo und wie genau sollen Proben genommen werden von den Toten? Wie frisch müssen die Leichen sein? Wie lange dürfen sie gekühlt worden sein? Oder sind tiefgefrorene Leichen besser? Sollen sie auf dem Bauch liegen oder auf dem Rücken? Jedes Detail könnte wichtig sein. In den vergangenen Jahren sind immer wieder zweifelhafte forensische Methoden vor Gericht eingesetzt worden. Unschuldige Menschen mussten wegen windiger Expertenaussagen Jahre ins Gefängnis. "Es ist wichtig, diese Methoden gründlich zu erforschen und sie im Feld zu erproben", sagt Melissa Connor, eine der Forscherinnen.

Connor hat geholfen, menschliche Überreste in Massengräbern in Bosnien, Ruanda und im Irak zu identifizieren. Jahrelang hat sie tote Schweine in ihrem Garten verscharrt und ihre Studenten diese dann ausgraben lassen. Seit 2012 leitet sie eine Leichenfarm in Grand Junction, Colorado. "Jetzt muss ich endlich keine toten Schweine mehr im Auto herumfahren", sagt sie.

Connors Leichenfarm ist die jüngste und sie ist Teil eines Trends. Sechs solche Einrichtungen gibt es inzwischen. Die erste wurde 1981 im US-Staat Tennessee eröffnet, alle anderen folgten in den vergangenen zehn Jahren. Eine siebte, die erste außerhalb der USA, soll es demnächst in Australien geben.

Sibyl Bucheli erforscht Insekten, besonders jene, die sich auf Leichen tummeln. Beim Besuch auf der Bodyfarm trägt die kleine Frau dunkle Kleider und Stiefel. Auf ihrer schwarzen Kappe steht "Team Player" in pinker Glitzerschrift. Sie hockt sich neben eine Leiche, der Anhänger ihrer Kette schwingt über den Überresten des Gesichts wie ein Pendel. "Hier sind jede Menge Milben." Sie zeigt auf winzige orangefarbene Tiere, die über den Toten krabbeln.

Wenn das menschliche Leben zu Ende geht, beginnen die Mikroben

Die Leiche wurde im November abgelegt. Die schrumpelige Haut hat eine gelblich-braune Farbe. Ob es einmal ein Mann oder eine Frau war, ist kaum erkennbar. Wo die Geschlechtsteile waren, klafft ein dunkles Loch. "Die Geier bevorzugen die Geschlechtsteile und die Augen", sagt Bucheli. Die Arme sind vom Körper weggestreckt. Die Leichen werden zwar mit den Armen an den Seiten abgelegt, aber wenn sie sich aufblähen, spreizen sie die Arme. Ein Forscher nennt es den "Totentanz".

Bucheli interessiert sich ebenfalls für die Mikroben auf den Leichen. Bevor sie sich mit Metcalf zusammengetan hat, hatte sie mit Kollegen von der Sam Houston State University drei Jahre lang je zwei Leichen pro Jahreszeit ausgelegt und täglich an mehreren Stellen Proben genommen. Drei Tiefkühlschränke im nahen Institut sind voll mit gefrorenen Proben von den Leichen oder der Erde um sie herum. Daraus gewinnt Bucheli die DNA der Mikroorganismen - und das Bild, das sich ergibt, ähnelt dem von Metcalfs Mäusen.

Auf Leichen herrscht Krieg

Wenn ein Mensch stirbt, dann ist das nicht das Ende. Zumindest für die Milliarden Mikroben, die er in und auf sich trägt. Das Immunsystem hält die Mitbewohner nicht mehr in Schach und sie beginnen sich rasant zu vermehren. Bakterien der Gruppen Moraxellaceae und Acinetobacter gehören zu den ersten. Etwas später übernehmen andere Mikroben die Führung. Die Bakterien produzieren Gase. Das bläht den Leichnam auf, bis er platzt. Der Sauerstoff, der dann in den Körper dringt, gibt anderen Bakterien einen Überlebensvorteil. Und schließlich beginnen sich Nematoden zu vermehren, winzige Würmer, die sich von der Bakterienblüte auf der Leiche ernähren. Der Prozess scheint sehr geordnet zu sein. "Und er ist ungeheuer effizient", sagt Metcalf.

Im Grunde ist das nicht erstaunlich. Große Tiere leben seit einigen Hundert Millionen Jahren an Land. Stirbt eines von ihnen, ist das eine wertvolle Ansammlung von Nährstoffen. Vermutlich gibt es unter den Mikroben einen ebenso intensiven Kampf um diese Ressource wie bei Löwen, Hyänen und Geiern. "Auf so einer Leiche muss Krieg herrschen", sagt Metcalf. Diese Konkurrenz hat über Jahrmillionen zu einem effizienten Recycling geführt. Die Kampfmittel der Mikroben könnten auch für Menschen interessant sein. "Vielleicht finden wir darunter ein neues Antibiotikum", sagt Metcalf.

Doch der Anblick der Leichen schockiert sie noch immer. Die Erfahrungen, die man bei dieser Arbeit mache, seien anderen Menschen kaum zu vermitteln, sagt auch Connor. "Wie fühlt es sich an, ein Massengrab auszuheben? Na ja, ein bisschen schleimig." Ihren Tod sieht sie pragmatisch, ihr Leichnam soll so effizient wie möglich eingesetzt werden. Ihre Organe zu spenden sei das wichtigste, sagt sie. Der Rest könnte dann an eine Leichenfarm gehen. Allerdings nicht an ihre eigene. "Wir sind eine kleine Einrichtung. Das kann ich meinen Studenten nicht zumuten."

Zuletzt besprechen die Forscher an diesem Morgen, was mit den Knochen passieren soll. Selbst das harte Knochenmaterial wird irgendwann von den Mikroben erobert. Metcalf hofft, dass es auch hier eine Art Uhr gibt: eine immer gleiche Abfolge von Mikroorganismen, die nach Wochen oder Monaten in den Knochen zu finden sind. Das könnte helfen, auch bei alten Skeletten noch den Todeszeitpunkt einzugrenzen. Von einem Teil der Leichen, die im texanischen Wald verwesen werden, sollen deswegen auch aus den Knochen Proben entnommen werden. Die Forscher einigen sich darauf, alle paar Wochen bei einer der Leichen eine Rippe zu entnehmen und diese zu untersuchen.

Dann ist die Arbeit erst einmal getan. Nach dem Tod geht es wieder um das Leben. Zeit fürs Mittagessen. "Es gibt ein tolles Barbecue-Lokal in der Nähe", sagt einer der Forscher.

"Ernsthaft?", fragt Metcalf und schüttelt den Kopf. "Rippchen?"

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