Folgen von Doppelleben:Wenn das halbe Leben eine Lüge ist

Der Familienvater, der seine Homosexualität heimlich auslebt, der Arbeitslose, der so tut, als hätte er noch einen Job - Doppelleben sind selten, aber es gibt sie. Wer ein großes Geheimnis vor den Mitmenschen verbirgt, gefährdet seine Gesundheit, doch manchmal ist es der bessere Weg.

Marlene Weiss

Martha liebt Paul. Paul, der sein Studium erfolgreich abgeschlossen hat und an seiner Medizin-Doktorarbeit schreibt. Paul, der lustig und freundlich ist, aber dessen Kollegen immer absagen, wenn sie bei den beiden eingeladen sind. Paul, der manchmal nachts am Fenster steht und nicht erklären kann, was mit ihm los ist.

über uns das all

Pauls halbes Leben ist eine Lüge. Szene aus dem Film "Über uns das All".

(Foto: RealFiction)

Bis eines Tages zwei Polizistinnen in Marthas Wohnung stehen und ihr sagen, ihr Mann habe sich das Leben genommen. Erst jetzt wird Martha klar, dass Pauls halbes Leben eine Lüge war: Arbeit, Promotion, Kollegen, all das gab es nie, nur ein Labyrinth von Geheimnissen und Lügen, aus dem er schließlich keinen Ausweg mehr gefunden hat. Das ist der Plot des Films "Über uns das All" von Jan Schomburg, der an diesem Donnerstag in die Kinos kommt.

Solche Doppelleben sind zwar selten, aber es gibt sie. Der unglückliche Familienvater, der eine heimliche Zweitexistenz in der Schwulenszene hat, der Politiker, der neben der offiziellen noch eine inoffizielle Familie hat, oder der Arbeitslose, der seine Situation sogar vor den engsten Angehörigen verheimlicht.

Der Atlantiküberquerer Charles Lindbergh beispielsweise hatte eine Zweitexistenz als Vater von drei Kindern in Deutschland. Der Schauspieler Walter Sedlmayr, nach außen ein Vorzeige-Bayer, hatte eine Neigung zu Sado-Maso-Sex, was erst nach seiner Ermordung herauskam.

Aber während die verbreitete Auffassung ist, solche Lebensgeheimnisse seien nicht nur moralisch bedenklich, sondern führen auch früher oder später, wie in Pauls Fall, zu Krankheit und Zusammenbruch, sind manche Psychologen ganz anderer Ansicht. Geheimnisse, auch größere, gehören zum Leben dazu, glauben sie - und nicht immer ist die ganze Wahrheit die beste Lösung.

Dabei sah es lange so aus, als gebe es kaum etwas Ungesünderes, als Dinge zu verheimlichen. In den 1980er und 1990er Jahren machten US-Psychologen erste empirische Studien, um zu verstehen, was es für Konsequenzen hat, etwas zu verbergen. Demnach schien Geheimnistuerei schwer auf die Gesundheit zu schlagen. So stellte der US-Psychologe James Pennebaker 1985 fest, dass die Haut von Probanden, die etwas vor dem Versuchsleiter verheimlichen sollten, eine höhere elektrische Leitfähigkeit zeigt - ein Zeichen für emotionalen Stress.

Noch klarer wirkten die Ergebnisse von Steve Cole. In mehreren Studien beobachteten er und seine Kollegen schwule Männer, die ihre sexuelle Orientierung vor zumindest einem Teil ihres Umfelds verbargen. Anfangs völlig gesunde Probanden erkrankten dabei mit höherer Wahrscheinlichkeit als offen homosexuell lebende Vergleichspersonen. Die Leiden waren Lungenentzündung oder Krebs; bei HIV-positiven Probanden, die ihre schwule Identität verheimlichten, schritt die Immunschwäche schneller voran.

Die Deutung schien auf der Hand zu liegen: Ein Geheimnis belastet offenbar die Betroffenen, sie leben in ständiger Angst vor Entdeckung, bis schließlich ihr Nervenkostüm oder das Immunsystem Schaden nimmt. "Menschen mit einem geheimen Doppelleben fällt es schwer zu definieren, wer sie sind; sie wissen nicht, wie ihre Mitmenschen auf ihre ganze Persönlichkeit reagieren würden", sagt John Pachankis, Psychologe an der New Yorker Yeshiva-Universität.

Oft ist der Partner keine Hilfe

Der Forscher hat lange untersucht, was es in Menschen bewirkt, einen als stigmatisierend empfundenen Aspekt ihres Lebens zu verbergen. "Die Heimlichkeit kann den Zugang zu allen möglichen Quellen der Selbstachtung versperren", sagt er: Die Betroffenen gehen weniger auf andere zu; und Unterstützung von Menschen in einer ähnlichen Situation erhalten sie auch nicht. Auch der Partner ist nicht unbedingt eine Hilfe, denn oft will der, wie Martha im Film, die Wahrheit gar nicht sehen - ein Selbstschutzmechanismus, sagt Pachankis.

Der einzige Ausweg wäre dann, reinen Tisch zu machen. Tatsächlich scheint das den Gemüts- und Gesundheitszustand oft zu verbessern. In einem weiteren Versuch ließ Pennebaker Studenten traumatische Erlebnisse aufschreiben, anschließend wurden sie gegen Hepatitis B geimpft. Vier Monate später hatten die Studenten, die ihre Traumata wenigstens dem Papier anvertraut hatten, mehr Hepatitis-B-Antikörper als eine Kontrollgruppe, die über belanglose Erlebnisse geschrieben hatte.

Das Mitteilen privater Geheimnisse ist beliebt und in Zeiten des Internets auch einfacher geworden; wer sich auf Facebook nicht traut, kann seine Sünden über das Kunstprojekt postsecret.com der Welt mitteilen. Paul hätte sich also nur ein Herz fassen und Martha alles gestehen müssen, scheint daraus zu folgen, und schon hätte er seine Verzweiflung besiegen können.

Auch eine Schutzfunktion ist möglich

Doch ganz so einfach ist es offenbar nicht, glaubt jedenfalls Anita Kelly, Psychologin von der University of Notre Dame in Indiana und Autorin eines Buches zur Psychologie von Geheimnissen. Sie hält den etablierten Zusammenhang, wonach Verheimlichung zu psychischem Stress und der wiederum zu gesundheitlichen Problemen führt, für einen Irrtum. Der Zusammenhang täuscht, glaubt sie: "Es gibt keinerlei Beweise dafür, dass Geheimnisse krank machen."

Für eine im Jahr 2006 veröffentlichte Studie befragte Kelly 86 Studenten. Zwei Drittel gaben an, Geheimnisse zu haben; etwa heimliche Romanzen, schrille Vorlieben, Krankheiten oder Essstörungen. Zudem untersuchten die Forscher, wie offen die jeweiligen Probanden zu ihren Mitmenschen waren. Zwei Monate später hatte sich der psychische und physische Zustand der Geheimnisträger zwar im Schnitt verschlechtert - das lag jedoch laut Kellys Analyse allein daran, dass die Studenten mit Geheimnissen generell verschlossener waren, und zu psychischen Problemen neigten.

Rechnete man diese Tendenz aus den Daten heraus, wandelte sich das Ergebnis ins Gegenteil. Waren zwei Menschen in gleichem Maße verschlossen oder offenherzig, machte sie ein verborgenes Geheimnis im Durchschnitt gesünder und glücklicher. Paul wäre also nicht aufgrund seines Doppellebens in die Spirale der Verzweiflung geraten, sondern weil er grundsätzlich dazu neigt, sich abzukapseln.

"Geheimnisse können eine Schutzfunktion haben", sagt Kelly, "manchmal ist es besser, sie nicht preiszugeben." Tatsächlich kommen manche Leute ziemlich gut damit zurecht, Dinge für sich zu behalten. Etwa Mark Felt: Als anonyme Quelle Deep Throat half er, den Watergate-Skandal ans Licht zu bringen, und verschwieg seine Rolle 33 Jahre lang - und wurde immerhin 95 Jahre alt.

Selbst Menschen, denen das Geheimhalten schwerfällt, leben damit unter Umständen immer noch besser als wenn sie die Wahrheit preisgeben. So hat Steve Cole, der einst den Zusammenhang zwischen verborgener Homosexualität und Krankheit beobachtete, in einer Langzeitstudie zu HIV-positiven Homosexuellen noch etwas anderes festgestellt: Unter jenen Männern, die besonders empfindlich auf Zurückweisung reagierten, waren diejenigen gesünder, die ihre sexuelle Orientierung geheimhielten.

Anita Kelly glaubt daher, man sollte sich sehr gut überlegen, ob man ein Geheimnis aufgibt - sogar wenn man seine Arbeitslosigkeit vor seinem Ehepartner verbirgt. "Das klingt traurig, aber wer so etwas tut, lebt eben die Identität des Menschen, der er sein möchte", sagt sie - vorausgesetzt, der Partner erfahre nichts davon, vielleicht weil man überzeugt ist, bald wieder einen Job zu haben. Allerdings sei die Beziehung dann wohl schlecht, sagt Kelly. Denn zumindest insofern hat die Alltagspsychologie wohl recht: Geheimnisse hat man vor Menschen, denen man sich nicht besonders nahe fühlt.

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